Nach dem fehlgeschlagenen Putschversuch im Juli 2016, wurde in der Türkei der Ausnahmezustand ausgerufen. Seither hat sich die Situation der Menschenrechte drastisch verschlechtert. Wie schätzen Sie die aktuelle Situation ein?
Sie ist katastrophal: Der Rechtsstaat und die demokratischen Prinzipien sind nicht mehr garantiert. Personen, die das Regime nicht unterstützen, werden beschuldigt, terroristische Propaganda zu machen. Sie werden von ihren Funktionen suspendiert, willkürlich verhaftet und inhaftiert. Es gibt keine Unabhängigkeit mehr unter der ausführenden, gesetzgebenden und richterlichen Behörde. Alles wird von einer Person aus gesteuert. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat vom Ausnahmezustand profitiert und seine Macht ausgeweitet. Er regiert mittels Dekreten. Im August 2019 wurden drei Bürgermeister der HDP abgesetzt; ihnen wurden terroristische Aktivitäten zur Last gelegt.
Wer ist speziell bedroht von den türkischen Autoritäten?
Die Kurdinnen und Kurden. Aber nach dem Putschversuch sind die Sympathisantinnen und Sympathisanten der Gülen-Bewegung auch zur Zielgruppe geworden. Dazu Medienschaffende, Menschenrechtsaktivisten, Angehörige von politisch linken Bewegungen. Im Allgemeinen sind alle Personen von Verfolgung und Inhaftierung bedroht, die die Regierung öffentlich kritisieren.
2019 fielen 1287 von insgesamt 14’269 eingereichten Asylgesuchen auf die Türkei. 2018 waren es 1005 von insgesamt 15’255 eingereichten Asylgesuchen, welche die Türkei betrafen. Wie erklären Sie sich diese Erhöhung?
Dass es mehr Geflüchtete aus der Türkei gibt, die in der Schweiz ein Asylgesuch stellen, widerspiegelt die aktuelle Situation dort. Alle Oppositionellen werden von den Behörden verfolgt und bedroht. Einmal verhaftet, wird ihnen nicht einmal ein faires Gerichtsverfahren gewährt. Als einzige Möglichkeit bleibt nur noch, das Land zu verlassen.
Wie ist die Situation für Kurdinnen und Kurden, Türkinnen und Türken sowie binationale Personen in der Schweiz, die Kontakte zu Verwandten in der Türkei unterhalten, welche das Regime Erdogans kritisieren?
Für sie ist es aktuell viel zu gefährlich, in die Türkei zu gehen. Das Regime ermutigt die Menschen zum Denunzieren und gibt dafür viel Geld aus. Es gibt sogar eine App auf dem Smartphone, damit Ausgewanderte Dissidentinnen und Dissidenten denunzieren können.
Was können die Schweiz und Europa tun, um Bedrohten in der Türkei zu helfen?
Solange die demokratischen Prinzipien und die Menschenrechte in der Türkei nicht respektiert werden, sollten die Schweiz und Europa alle politischen Verhandlungen mit Erdogan sistieren. Die Schweiz sollte keine Waffen in Kriegsländer exportieren, und die Banken sollten auf Geschäfte mit schmutzigem Geld von türkischen Machthabern verzichten. Die Europäische Union (EU) sollte den Türkei-Deal von 2016, der Flüchtlingen eine Weiterreise nach Europa verunmöglicht, kündigen. Denn das Geld, das die EU hierfür bezahlt, kommt nicht den Geflüchteten zugute, sondern fliesst direkt in die Taschen Erdogans.
Von Karin Mathys, Redaktorin SFH