Geschichte

Geschichte

Aus der Flüchtlingsnot der 1930er Jahre geboren, hat sich die Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH) von einer Fürsorge- zur modernen Fach- und Dachverbandsorganisation entwickelt. Die Geschichte der SFH zeigt, wie stark die Schweizerische Flüchtlingspolitik mit gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Opportunitäten verknüpft ist.

Freie und grosszügige Aufnahme von Flüchtlingen – 1936 bis 1975

1936 – Gründung als Clearingstelle : Tausende Verfolgte, politische Flüchtlinge, Sinti, Roma und vor allem Juden, sind europaweit seit 1933 auf der Flucht – auch in die Schweiz. Hier kümmern sich ausschliesslich private Hilfswerke, viele von ihnen sind nach der NS-Machtergreifung überhaupt erst entstanden, um die Schutzbedürftigen. Die Freiwilligenorganisationen sind durch Sammlungen und Spenden finanziert. Sie vermitteln Unterkünfte, verteilen Kleidung, greifen Schutzsuchenden finanziell unter die Arme, helfen bei der Weiterreise.

Weil sie bald an ihre Grenzen stossen, wollen sie ihre Kräfte bündeln und die knappen Ressourcen gemeinsam nutzen. Es sind insgesamt 13 Hilfswerke, die am 17. Juni 1936 die Zentralstelle für Flüchtlingshilfe (SZF) – die heutige Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH) gründen. Die Dachorganisation soll als Clearingstelle die Arbeit der Hilfswerke koordinieren, den Kontakt zu internationalen Organisationen sichern, aber auch die Flüchtlingsinteressen gegenüber den Behörden vertreten.

1936-1945: Die Aufbauphase der SZF: SZF-intern erschwert es die heterogene Zusammensetzung der Mitglieder, Solidargenossenschaften aus unterschiedlichsten politischen, sozialen und religiösen Milieus, eine gemeinsame Stossrichtung festzulegen.

Bis 1945 agieren SZF und Hilfswerke als loyale Partner der Behörden, die in der Flüchtlingspolitik viele Aufgaben übernehmen und finanzieren. Zugleich ist die Zusammenarbeit durch einen sich verschärfenden Konflikt belastet, der mit der Schweizer Grenzschliessung 1942 seinen Höhepunkt erreicht. Mit ihren Forderungen nach einer humaneren Asylpraxis stösst die SZF indes auf taube Ohren.

Ab 1945: Professionalisierung der SZF: Nach Kriegsende übernimmt die SFZ verschiedene zentrale Aufgaben bei der Rechtsberatung, der Rückwanderung von Kriegsvertriebenen und der Einrichtung des Dauerasyls für reiseunfähige Flüchtlinge. Die SZF nutzt nun geschickt das Bestreben der offiziellen Schweiz, ihre rigide Abwehrhaltung im Krieg vergessen zu machen. Damit beginnt jene rund vier Jahrzehnte dauernde Phase der Professionalisierung, in der die SFZ flüchtlingsrechtliche Expertise entwickelt und sich als international vernetzte Fachorganisation etabliert. Sie wird zur anwaltschaftlichen Reformkraft, die massgeblich dazu beiträgt, Asylstrukturen aufzubauen, das bis dato politische Verfahren zu verrechtlichen und dabei die Rechtsstellung der Schutzsuchenden sukzessive zu verbessern.

1946 Schweiz wird vom Transit- zum Aufnahmeland: 1946/47 leitet die SZF mit einem politischen Vorstoss zur Liberalisierung des Asylwesens die Wende in der helvetischen Flüchtlingspolitik ein: Die Schweiz gibt in der Folge ihren traditionellen Grundsatz der temporären Asylgewährung zugunsten des Dauerasyls auf und wird vom Transit- zum Aufnahmeland

Ab 1947: Die Schweiz beginnt mit Sonderaktionen für behinderte und hochbetagte Flüchtlinge bis in die 1970er-Jahre. Kollektive Aufnahmen von Flüchtlingen aus Ungarn (1956), Tibet (1962), der Tschechoslowakei (1968), Uganda (1972), Chile (1973), Indochina (1975) und Polen (1981/82) prägen die Schweizer Asylpolitik.

1951: Das Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, die sogenannte Genfer Flüchtlingskonvention (GFK), wird am 28. Juli auf einer UNO-Sonderkonferenz in Genf verabschiedet. Die Schweiz tritt der GFK 1955 bei.

1957: Der Bundesrat die Aufnahme von Flüchtlingen gar zur «staatspolitischen Maxime». Willkommen sind vorab Flüchtlinge aus kommunistischen Staaten wie Ungarn und der Tschechoslowakei, die unkompliziert kollektiv aufgenommen werden.

Ab 1960: Integration und Bildung als neue Aufgaben der SZF: Die Rechtssicherheit für Schutzbedürftige bleibt weiterhin das Kernanliegen der SZF. Sie kooperiert dazu mit den Behörden und  lobbyiert in Bundesbern.

1968: Der Bundesrat genehmigt die ausgehandelte Hilfswerksvertretung (HWV), womit eine wichtige Grundlage für ein faires Asylverfahren gelegt ist. Mit dieser Regelung sind die SZF-Mitglieder fortan als teilnehmende Beobachtende bei den Anhörungen zugelassen und so direkt ins Asylverfahren einbezogen. Diese spezifische Form des Verfahrensschutzes prägt die Arbeit der SZF und den ihr angeschlossenen Hilfswerken in der Folge für über 50 Jahre.

Kurz darauf gründet die SZF eine breit abgestützte Asylrechtskommission. Diese prägt später das erste Asylgesetz von 1981 massgeblich. Das liberale Gesetz ist Ausdruck eines weltoffenen und sozialen Zeitgeistes und kodifiziert die bis dahin grosszügige Asylpraxis auf der Basis der Genfer Flüchtlingskonvention.

1979: Das Parlament verabschiedet am 5. Oktober das erste Asylgesetz der Schweiz, das am 1. Januar 1981 in Kraft tritt und von bemerkenswert liberalem Geist ist.

1980: Die SZF baut mit einem eigenen Büro in Lausanne ihre Aktivitäten in der Romandie aus.

Der Revisionsreigen beginnt – die Jahre 1980 bis 1994

Ab 1980 - Misstrauen wird zum Grundton in der Asylpolitik: Die Flüchtlingsgesuche steigen rapide an. Es folgen kontrovers geführte innenpolitische Debatten und erste Teilrevisionen des Asylgesetzes (1983, 1986).
Ab Mitte der 80er Jahre kommen Asylsuchende vorab aus südlichen Regionen wie der Türkei, Sri Lanka oder Afrika. In den 90er Jahren erreicht die Zahl der Gesuche während der Balkankriege einen historischen Höchststand. Forciert von rechtsbürgerlichen Parteien wird die Asylpolitik zum innenpolitisch sensiblen Thema – und das Misstrauen zum Grundton im öffentlichen Diskurs.

1981: Mit einem «Tag des Flüchtlings, Tag der Gastfreundschaft» feiert die SZF am 20. Juni erstmals den nationalen Tag des Flüchtlings. Die Flüchtlingstage finden seither jährlich am dritten Wochenende im Juni statt.

1986: Die SZF lanciert das Fachmagazin «ASYL».

Ab 1990 - Stetige Verschärfung der Asylgesetzgebung und -praxis: 1990 installiert der Bund zwar auf der Basis eines SFZ-Modells noch die Asylrekurskommission als erste verwaltungsunabhängige Beschwerdeinstanz, doch bleibt diese rechtsstaatliche Errungenschaft eine Ausnahme der fortan geltenden Regel: Gesetzesrevisionen folgen Schlag auf Schlag und bringen laufend Verschärfungen, die von der Einführung von Zwangsmassnahmen über die Abschaffung des Botschaftsasyls bis hin zum unwürdigen Nothilferegime reichen.

Die SZF steht seither vornehmlich im steten Abwehrkampf gegen Praxisverschärfungen und den Abbau von Flüchtlingsrechten. Sie tritt dabei nun politisch weitaus oppositioneller auf als in den Jahrzehnten davor, ohne dafür die pragmatische Zusammenarbeit mit den Behörden aufzugeben.

1991: Namenswechsel: Die SZF tritt neu als «Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH)» auf.

1991: Anschläge gegen Flüchtlingszentren häufen sich. Angeregt von kirchlichen Kreisen entsteht das Forum gegen Rassismus. Die SFH übernimmt im ersten Jahr das Sekretariat.

1992: Die Schweizerische Asylrekurskommission nimmt dank massgeblichem Engagement der SFH ihre Arbeit auf. 2007 wird sie ins Bundesverwaltungsgericht überführt.

1994: Das Heim «Alpenruhe» in Saanen geht in eine Stiftung über und dient künftig als Betreuungsstätte für behinderte Erwachsene.

Die SFH wird Mitglied des Europäischen Flüchtlingsrats (European Council on Refugees and Exiles ECRE), einer Allianz von Nichtregierungsorganisationen, die sich für den Schutz und die Rechte von Schutzsuchenden und Flüchtlingen engagiert.

Näher zu Bundesbern – die Jahre 1995 bis 2015

1995: Die SFH verlegt ihr Generalsekretariat von Zürich nach Bern, näher an das politische Geschehen.

1998: Die SFH publiziert die erste Ausgabe des asylpolitischen Magazins «Fluchtpunkt». Auch erhält sie ihren ersten – zunächst noch rudimentären – Internetauftritt.

1999: Das erneut verschärfte Asylgesetz wird in einer Volksabstimmung klar angenommen.

2003: Für die SFH beginnt der bis heute andauernde Kampf gegen das menschenunwürdige Nothilferegime. Dieses wird 2004 für Personen mit Nichteintretensentscheid eingeführt und 2008 auf alle abgewiesenen Asylsuchenden ausgedehnt.

2004: Die SFH und das UNHCR veranstalten in Bern das erste Schweizer Asylsymposium («Flüchtlingsschutz»). Weitere Symposien finden in den Jahren 2006 («Schweiz und das europäische Asylsystem»), 2009 («Kontingentsflüchtlings- und Integrationspolitik»), 2011 («Flüchtlingsbegriff im Wandel») sowie 2013 («Wege zu einer glaubwürdigeren Asylpolitik») statt.

2006: Eine deutliche Mehrheit sagt Ja zum neuen Asylgesetz, das weitere Verschärfungen bringt.

2009: Die SFH gibt in einer Neuauflage das «Handbuch zum Asyl- und Wegweisungsverfahren» heraus. Zusammen mit dem UNHCR publiziert sie das Buch «Schweizer Asylrecht, EU-Standards und internationales Flüchtlingsrecht».

2010: Die SFH nimmt an ihrer Generalversammlung die Schweizer Sektion von Amnesty International als neues Mitglied auf.

2011: Die SFH startet ihr Italien-Programm. Das südliche Nachbarland hat für die Schweiz eine übergeordnete Bedeutung im Dublin-Verfahren aufgrund der grossen Anzahl an Rücküberstellungen. Die SFH beobachtet die Situation von Asylsuchenden in Italien vor Ort kritisch. Im Mai 2011 erscheint der erste dieser Berichte mit dem Titel «Asylverfahren und Aufnahmebedingungen in Italien».

2012: 10. Asylgesetzrevision: Die Schweiz hat das Asylgesetz ein weiteres Mal verschärft und den Flüchtlingsschutz herabgesetzt, unter anderem durch die Abschaffung des Botschaftsverfahrens. 

Paradigmenwechsel in der Asylpolitik: Die SFH lanciert Vorschläge für ein faires, glaubwürdiges und effizientes Asylverfahren mit einem für Asylsuchende kostenlosen Rechtsschutz durch unabhängige Rechtsvertreter.

2013: Die SFH nimmt die Stiftung Heilsarmee Flüchtlingshilfe als neues Mitglied auf.

2014: Anfang Januar startet in Zürich der Testbetrieb für ein verkürztes Asylverfahren. Den Asylsuchenden steht dabei eine Rechtsberaterin bzw. ein Rechtsberater über die gesamte Dauer des Asylverfahrens zur Seite. Die SFH stellt dabei im Auftrag des Bundes gemeinsam mit der Berner Rechtsberatungsstelle für Menschen in Not, dem Schweizerischen Arbeiterhilfswerk SAH und dem Verband Schweizerischer Jüdischer Fürsorgen VSJF die Rechtsberatung sicher.

Die SFH sorgt im Herbst mit ihrer innovativen Idee, anerkannte Flüchtlinge und vorläufig Aufgenommene bei Gastfamilien unterzubringen, für Furore. Sie kann die Kantone Aargau, Bern, Genf und Waadt für ein gemeinsam betriebenes Integrationsprogramm gewinnen. Ihr Gastfamilienprojekt versteht sie als Anregung für andere Kantone, ähnliche Unterbringungs- und Integrationsprojekte umzusetzen. In den Partnerkantonen übernimmt sie die Gesamtkoordination sowie die Betreuung der Gastfamilien. 

2015: Das Gastfamilienprojekt geht in die Umsetzung: Der Eritreer Morad Essa kann im März 2015 als erster Flüchtling bei einer Gastfamilie im Kanton Waadt einzieht.

Beschleunigtes Verfahren und Integrationsagenda – 2016 bis heute

2016: Der 5. Juni 2016 wird zum Wendepunkt. Nach 11 Asylgesetzrevisionen, die von der SFH wegen der ständigen Verschärfungen erfolglos bekämpft worden waren, wird an der Urne ein Asylverfahren durchgesetzt, das wesentlich schneller ablaufen soll, wobei dafür den Asylsuchenden vom ersten Tag der Gesuchstellung einen unentgeltlichen Rechtsschutz garantiert ist. Zwei Drittel der Stimmenden haben dieser markanten Besserstellung der Asylsuchenden zugestimmt.

April 2018: Im Bundesasylzentrum Boudry startet ein zweiter Testbetrieb zum neuen Asylverfahren. Beauftragte für den Rechtsschutz vor Ort ist die Caritas. Die SFH ist in deren Auftrag für die Qualitätssicherung sowie die Aus- und Weiterbildung der Rechtsvertretenden zuständig.

Oktober 2018: Der Bund erteilt im Rahmen des neuen Asylverfahrens die Zuschläge für den Rechtsschutz in den Bundesasylzentren. Ab 1. März 2020 nehmen in der Westschweiz Caritas, in der Zentral- und Südschweiz Caritas/SOS Ticino, in Basel und Ostschweiz HEKS und in Bern und Zürich die RBS Bern und SAH ihre neuen Aufgaben wahr.

Die SFH ist für ihre Mitgliedsorganisationen in vier der sechs Zentren für die rechtliche und länderspezifische Grundlagenarbeit, die Aus- und Weiterbildung der Rechtsvertretenden sowie das Qualitätsmanagement mandatiert.

Januar 2019: Die SFH übergibt das Gastfamilienprojekt an lokal verankerte Organisationen mit grosser Betreuungserfahrung: der Verein Familynetwork (AG), der Verein prim a familia (BE), die Stiftung Le Relais (VD) und das kantonale Sozialamt Hospice général (GE) führen das Projekt der SFH fort. Die SFH zieht eine positive Bilanz: Seit 2015 konnte die SFH 130 anerkannte Flüchtlinge und vorläufig Aufgenommene während mindestens zwölf Monaten bei Gastfamilien platzieren. Das Beispiel hat zudem schweizweit Schule gemacht, in jedem Kanton besteht ein Angebot für Interessierte, die Flüchtlinge privat bei sich aufnehmen wollen oder zumindest ein Kontakt.

März 2019: Das neue Asylverfahren mit direkter Beteiligung der SFH geht in allen sechs Asylregionen in die Umsetzung.

Februar 2020: Die SFH zieht eine erste, grundsätzlich positive Bilanz zum neuen Asylverfahren. Doch moniert sie, dass die Umsetzung unausgewogen erfolgt. Sie bemängelt, dass der Fokus der Behörden auf der Beschleunigung liegt – auf  Kosten von Fairness und Qualität der Verfahren. Aus Sicht der SFH belastet der enorme Zeitdruck den Rechtsschutz stark. Die SFH fordert Anpassungen, damit der Rechtsschutz seine Rolle vollumfänglich wahrnehmen kann und alle Asylsuchenden ein einheitliches und faires Verfahren bekommen.

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