Bericht über Menschenrechtsverletzungen an minderjährigen Schutzsuchenden in Bundesasylzentrum

22. Oktober 2024

Drei Jahre nach Bekanntwerden von Gewaltvorfällen gegenüber Schutzsuchenden in Schweizer Bundesasylzentren durch externes Sicherheitspersonal dokumentiert Amnesty International in einem heute veröffentlichten Bericht neue Fälle von mutmasslichen Menschenrechtsverletzungen.

«Es war so dunkel, dass ich das Gefühl hatte, mein Herz würde explodieren und ich würde ersticken», wird einer der damals minderjährigen Asylsuchenden aus dem BAZ Les Rochat zitiert. 

Übergriffe auf unbegleitete Kinder

In einem heute von Amnesty International (AI) veröffentlichten Bericht werden Übergriffe dokumentiert, die sich zwischen März und Mai 2023 im Bundesasylzentrum (BAZ) Les Rochat ereignet haben. Übereinstimmend berichten fünf damals unbegleitete minderjährige Asylsuchende, von Angehörigen des Sicherheitspersonals in kleinen, fensterlosen Räumen festgehalten, am Boden fixiert und mit Pfefferspray attackiert worden zu sein; ausserdem sei es zu Schlägen und teils rassistischen Beschimpfungen gekommen.

Gemäss AI äusserte sich das Staatssekretariat für Migration (SEM) zurückhaltend. Es habe sich bei den Vorfällen um Situationen gehandelt, denen « vergebliche Versuche des Dialogs und der Mediation» vorausgegangen seien, auf die die Jugendlichen mit «Aggressivität» reagiert hätten. Das SEM rechtfertigt demnach den Einsatz von Zwangsmassnahmen als «notwendig» und die angewandten Mittel als «angemessen».

Die betroffenen Jugendlichen und ihre Rechtsvertretungen hingegen widersprechen dieser Darstellung. Sie betonen, dass von ihnen keine Gewalt ausgegangen sei und sie die Gründe für die Massnahmen nicht hätten nachvollziehen können. Auch AI äussert Zweifel über die den Vorfällen angeblich vorangegangenen Eskalationen, zumal in keinem der Fälle eine Betreuungsperson zugegen gewesen sei.

Missstände im BAZ Les Rochat zum Zeitpunkt der von AI dokumentierten Übergriffe zeigte auch ein Bericht der Nationalen Kommission zur Verhütung von Folter (NKVF) auf; so seien dort zum Besuchszeitpunkt am 29. März 2023 nicht, wie vom SEM eigentlich vorgeschrieben, Mitarbeitende mit sozialpädagogischer Qualifikation tätig gewesen. Auch die beiden Räume, in denen sich die fünf dokumentierten Gewaltvorfälle zugetragen haben, erachtet die Kommission als problematisch, da Massnahmen zur Disziplinierung von Jugendlichen gemäss der Kinderrechtskonvention strikt untersagt seien.

Nicht der erste Bericht

Bereits Anfang 2020 hatte AI erste Hinweise auf Misshandlungen von Asylsuchenden durch externes Sicherheitspersonal erhalten. Ein 2021 veröffentlichter Bericht zeigte strukturelle Defizite im Sicherheitsmanagement und fehlende Überwachungsmechanismen in den BAZ auf. Besondere Besorgnis erregte die Existenz von sogenannten «Besinnungsräumen» und die unzureichende Dokumentation von «sicherheitsrelevanten Vorfällen».

Alt-Bundesrichter Niklaus Oberholzer wurde daraufhin vom SEM mit einer unabhängigen Untersuchung beauftragt. Der sogenannte Oberholzer-Bericht enthält zwölf Empfehlungen, die Gewaltvorfälle künftig verhindern helfen sollten.

Die Rechte von unbegleiteten Kindern müssen geschützt werden

Die Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH) ist besorgt über die Vorwürfe von Gewalt gegenüber Kindern in Les Rochat. Sie beobachtet die Umsetzung der Empfehlungen des Oberholzer-Berichts und hat sich in der Vergangenheit bereits mehrfach dazu geäussert. Die SFH erkennt zwar an, dass das SEM Massnahmen ergriffen hat, um die Sicherheit und Gewaltprävention in den BAZ zu verbessern. Diese reichen jedoch nicht aus, um die Rechte von Asylsuchenden und insbesondere den Schutz von Kindern in den BAZ zu gewährleisten.

Die SFH spricht sich ausdrücklich gegen die vorübergehende Festsetzung von Kindern in einem Raum aus. In Zusammenhang mit Disziplinarmassnahmen darf es nicht zum Einsatz von körperlicher Gewalt kommen. Bei einer möglichen Anordnung von Zwangsmassnahmen ist in jedem Fall das Gebot der Verhältnismässigkeit zu beachten.  Die SFH empfiehlt zur Durchsetzung der Disziplin pädagogische Massnahmen, die in Zusammenarbeit mit geschulten Sozialpädagog*innen umgesetzt werden müssen.

Zudem bedarf es einer unabhängigen Beschwerdestelle, wie sie aktuell als Pilotprojekt in den Bundesasylzentren Basel und Zürich getestet wird. Damit eine solche Beschwerdestelle ihre Funktion erfüllen kann, muss sie potenziell Betroffenen jedoch bekannt und zugänglich sein. Anlässlich einer ersten Zwischenbilanz zum Pilotprojekt «Externe Meldestelle» stellte die SFH im März 2024 aber fest, dass die Existenz einer solchen unter Bewohnenden des BAZ Zürich nicht ausreichend bekannt war. Auch die fünf Betroffenen aus Les Rochat geben an, keinerlei Kenntnis über interne Beschwerdemechanismen gehabt zu haben.

AI bezweifelt zudem, dass über die dokumentierten Vorfälle systematisch Protokolle angefertigt worden sind. Erhärtet wird dieser Verdacht durch den Bericht der NKVF zum Besuch im BAZ Les Rochat, wonach es durchaus vorkommen könne, dass entgegen anderslautender Vorschriften bestimmte Vorfälle nicht im System aufgenommen würden. Die SFH besteht daher darauf, dass alle «sicherheitsrelevanten Vorfälle» systematisch und unter Auflistung aller beteiligten Personen dokumentiert und für etwaige Überprüfungen jederzeit zugänglich gemacht werden.

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