Interview: Barbara Graf Mousa, Redaktorin SFH. Das Gespräch fand Mitte Februar 2025 statt.
Wo waren Sie, als am 24. Februar 2022 die ersten Bomben auf die Ukraine fielen?
Damals lebte ich im Bezirk Wyschhorod in der Region Kiew. Mein Dorf, Stari Petriwzi, liegt nicht weit vom Flughafen Hostomel entfernt. Da dieser Flughafen ein strategisch wichtiger Punkt fĂĽr Kiew war, trafen die ersten Angriffe um 5 Uhr morgens am 24. Februar genau ihn und die benachbarten Siedlungen.
Im Wald in der Nähe meines Hauses landeten feindliche Fallschirmjäger, und die umliegenden Dörfer gerieten unter Besatzung. Ich konnte nicht glauben, was geschah, bis ich feindliche Hubschrauber sah, die nur 30 Meter von meinem Haus entfernt flogen. Erst gegen Mittag wurde mir wirklich bewusst – das ist kein Fehlalarm, sondern der Beginn eines echten Krieges.
Erinnern Sie sich noch an Ihre Reaktion? Was haben Sie damals getan?
Als mir die Realität des Krieges bewusst wurde, rief ich sofort meine Familie an, um herauszufinden, ob sie in Sicherheit waren und genug Lebensmittel hatten. Ich überwies ihnen Geld, damit sie alles Notwendige kaufen konnten. Dann ging ich selbst in den Laden, stand in der Schlange und kaufte Konserven, haltbare Lebensmittel und Trinkwasser. Danach packte ich meine «Notfalltasche» mit wichtigen Dokumenten und den notwendigsten Dingen.
Sie kamen im März 2022 in die Schweiz. Erinnern Sie sich, wie Sie sich damals gefühlt haben?
Als ich im März in die Schweiz kam, fühlte ich mich zum ersten Mal seit langer Zeit sicher. Dieses Land hat ein gut ausgebautes Bunkersystem, das selbst in den besorgniserregendsten Momenten ein Gefühl der Sicherheit vermittelt. Nachdem ich mich in Luzern niedergelassen hatte, informierte ich mich zunächst darüber, wo sich die nächstgelegenen Schutzräume befinden – das gab mir innere Ruhe.
Mich beeindruckte der Kontrast zwischen meinem inneren Zustand und der Atmosphäre um mich herum. Die Einheimischen waren völlig gelassen, und es war für sie schwer vorstellbar, was wir in den ersten schrecklichen Kriegsmonaten durchgemacht hatten. Doch das Wertvollste für mich war ihr aufrichtiges Mitgefühl und ihre Unterstützung. Sie versuchten, unseren Schmerz zu verstehen, zeigten Freundlichkeit und halfen uns, uns an die neue Umgebung anzupassen. Das gab mir das Gefühl, dass ich in diesem neuen Land nicht allein war.
Wie geht es Ihnen heute, drei Jahre später, in der Schweiz?
In den ersten zwei Jahren in der Schweiz lebte ich mit der Überzeugung, dass der Krieg bald enden würde und ich nach Hause zurückkehren könnte. Deshalb widmete ich dem Erlernen der deutschen Sprache nicht genügend Aufmerksamkeit. Erst im dritten Jahr meines Aufenthalts wurde mir klar, wie wichtig es ist, Deutsch für meine Integration und berufliche Entwicklung zu beherrschen, und ich begann, es aktiv zu lernen.
Da mein aktuelles Sprachniveau A2 ist, sind meine Beschäftigungsmöglichkeiten in meinem Berufsfeld begrenzt. Ich bin Psychologin und möchte mein Wissen nutzen, um die ukrainische Gemeinschaft in der Schweiz zu unterstützen. Ich zeichne seit meiner Kindheit und kenne viele Techniken, deshalb habe ich beschlossen, diese künstlerische Richtung mit der Psychologie zu verbinden. Dafür organisiere ich Kunsttherapie-Workshops, um Menschen zu helfen, Stress zu bewältigen und ihr inneres Gleichgewicht zu finden.
Trotz der Sprachbarriere arbeite ich hart an meiner persönlichen Entwicklung und beruflichen Verwirklichung. Mein Ziel ist es nicht nur, die Sprache auf einem hohen Niveau zu beherrschen, sondern auch eine Möglichkeit zu finden, meine Fähigkeiten in einem internationalen Umfeld anzuwenden, einen Beitrag zur Gesellschaft zu leisten und diejenigen zu unterstützen, die es brauchen.
Haben Sie die Ukraine in diesen drei Jahren einmal besucht?
Trotz meines starken Wunsches habe ich es in diesen drei Jahren nicht gewagt, die Ukraine zu besuchen. Als kreative Person mit einer sensiblen Wahrnehmung der Welt verstehe ich, dass ich mental noch nicht bereit bin, die Veränderungen zu sehen, die mein Land, meine Heimatstadt und ihre Menschen durchgemacht haben.
Wenn ich über das Ausmass der Zerstörung und den menschlichen Verlust nachdenke, spüre ich, dass ich derzeit nicht über die inneren Ressourcen verfüge, um diese Erfahrung zu bewältigen. Es ist schwer, sich leere Strassen, beschädigte Gebäude und Menschen vorzustellen, die nicht nur ihre Häuser, sondern auch einen Teil von sich selbst verloren haben.
Was hilft Ihnen am meisten, wenn Sie Heimweh haben und sich nach dem Leben in der Ukraine sehnen?
Ich verspüre oft Sehnsucht, besonders wenn ich Videos meines geliebten Kiews anschaue und sehe, wie es sich verändert. Diese Stadt nimmt einen besonderen Platz in meinem Herzen ein, und jedes Bild erinnert mich an die friedliche Vergangenheit und daran, wie sehr ich sie vermisse.
In Momenten tiefster Nostalgie hilft mir ukrainische Musik am meisten. Sie ermöglicht mir, eine tiefere Verbindung zu meiner Heimat zu spüren und zumindest gedanklich näher zu sein.
Eine weitere Quelle der Wärme ist ein kürzlich eröffneter ukrainischer Laden in Luzern. Die Möglichkeit, vertraute Produkte aus meiner Kindheit zu kaufen, bringt mir ein Stück Heimat zurück und vermittelt mir das Gefühl von Nähe, selbst aus der Ferne.
Auch der Austausch mit anderen Ukrainerinnen und Ukrainern ist wichtig – er hilft mir, Unterstützung zu spüren und zu verstehen, dass ich mit meinen Gefühlen nicht allein bin. Selbst kleine Details wie vertraute Gerichte oder Symbole aus der Heimat geben mir ein Gefühl von Stabilität und Wärme.
Darüber hinaus versuche ich, mich mit Dingen zu beschäftigen, die mich inspirieren – Kreativität, Freiwilligenarbeit und Arbeit, die Menschen zugutekommt. Das hilft mir, mich an die neue Umgebung anzupassen.
Was mögen Sie hier? Was fällt Ihnen in der Schweiz schwer?
Am meisten schätze ich die Stabilität, Sicherheit und den Respekt vor der Privatsphäre. Besonders wertvoll ist für mich, dass es hier eine ukrainische Gemeinschaft, kulturelle Initiativen und Orte gibt, die helfen, die Verbindung zur Heimat aufrechtzuerhalten.
Aber es gibt auch Herausforderungen. Die grösste Schwierigkeit ist die Sprachbarriere, die die Integration und die beruflichen Möglichkeiten einschränkt. Zudem ist die Anpassung an die lokale Mentalität und die strengen Regeln nicht einfach. Die Distanz zu meiner Familie und das Gefühl der Vorläufigkeit verursachen zusätzlichen emotionalen Stress.
Trotz dieser Herausforderungen lerne ich die Sprache, entwickle meine Fähigkeiten weiter und versuche, mich in die Gesellschaft zu integrieren, während ich meine Kultur und Identität bewahre.
Ist es fĂĽr Ukrainerinnen und Ukrainern schwierig, in der Schweiz Arbeit zu finden? Wenn ja, warum?
Ja, fĂĽr Ukrainer ist es schwierig, in der Schweiz Arbeit zu finden, und das hat mehrere GrĂĽnde:
Sprachbarriere – Die meisten Stellen erfordern Kenntnisse in Deutsch, Französisch oder Italienisch auf mindestens B1-B2-Niveau, was die Jobsuche für Neuankömmlinge erheblich erschwert.
Einschränkungen des S-Status – Dieser Status gewährt keinen automatischen Zugang zum Arbeitsmarkt. Um arbeiten zu dürfen, muss eine Genehmigung eingeholt werden, was Zeit in Anspruch nimmt und bürokratische Hürden mit sich bringt.
Hohe Qualifikationsanforderungen – In der Schweiz wird eine fundierte Berufsausbildung und Erfahrung hoch geschätzt, und ukrainische Diplome werden nicht immer ohne zusätzliche Anerkennung akzeptiert.
Starke Konkurrenz – Der Arbeitsmarkt ist hochgradig wettbewerbsintensiv, insbesondere in gefragten Branchen wie IT, Medizin und Bildung. Viele Arbeitgeber bevorzugen lokale Bewerberinnen und Bewerber, da diese das System und die gesetzlichen Vorschriften besser kennen.
Soziale Faktoren – Aufgrund des Krieges haben viele Ukrainerinnen und Ukrainer Lücken in ihrer Berufserfahrung, und Frauen, die mit Kindern gekommen sind, haben Schwierigkeiten, Arbeit und Familienbetreuung zu vereinbaren.
Trotz dieser Schwierigkeiten findet man auch Perspektiven durch Weiterbildungskurse, Sprachtraining, Networking und die Anpassung der Qualifikationen an den lokalen Arbeitsmarkt.
Wie beurteilen Sie die aktuelle Situation in der Ukraine?
Die Lage in der Ukraine bleibt äusserst schwierig. Die wichtigsten Herausforderungen sind:
Andauernde Angriffe – Ständige Raketenangriffe und Drohnenangriffe gefährden das Leben der Zivilbevölkerung und zerstören kritische Infrastruktur.
Wirtschaftliche Unsicherheit – Die Kriegssituation erschwert das tägliche Leben, beeinträchtigt Unternehmen und treibt die Inflation in die Höhe.
Schwierige Versorgungslage – Die Bereitstellung von humanitärer Hilfe und militärischer Unterstützung ist aufgrund von bürokratischen Hürden und ineffizientem Ressourcenmanagement schwierig.
Nachlassende internationale Aufmerksamkeit – Das sinkende weltweite Interesse führt zu einer Verzögerung bei der Lieferung militärischer und finanzieller Hilfe.
Insgesamt bleibt die Situation instabil, und leider gibt es kaum Anzeichen fĂĽr eine baldige Verbesserung.
Glauben Sie an Frieden? Und wenn ja, mit welchen Konsequenzen?
Die Aussicht auf Frieden in der Ukraine bleibt ungewiss. Das wahrscheinlichste Szenario ist ein temporärer Waffenstillstand, der möglicherweise unter ungünstigen oder kompromissbehafteten Bedingungen erreicht wird.
Es gibt Sorgen, dass Friedensverhandlungen, insbesondere unter internationalem Druck, zu territorialen Verlusten für die Ukraine führen könnten.
Auch die langfristigen Konsequenzen eines möglichen Friedens sind besorgniserregend. Selbst nach dem Ende der aktiven Kampfhandlungen besteht das Risiko, dass der Krieg in Zukunft erneut ausbricht, da Russland eine Pause nutzen könnte, um seine militärische Stärke wieder aufzubauen.
Welche Auswirkungen könnte die neue US-Regierung auf die Entwicklung auf die Ukraine?
Der Machtwechsel in den USA mit der Rückkehr von Donald Trump könnte die Politik gegenüber der Ukraine erheblich verändern. Die grösste Gefahr liegt in seiner Unberechenbarkeit und seinem pragmatischen, stark an den Interessen der USA orientierten Ansatz.
Es besteht die Möglichkeit, dass die Ukraine gezwungen wird, bei Verhandlungen mit Russland Kompromisse einzugehen, einschliesslich möglicher territorialer Zugeständnisse.
Zudem könnte die finanzielle und militärische Unterstützung überprüft werden. Falls die neue US-Administration die Hilfe reduziert, könnten die Auswirkungen für die Ukraine bereits in den nächsten Monaten spürbar sein. Trumps aussenpolitische Strategie könnte den Fokus von der Ukraine auf andere geopolitische Herausforderungen verlagern. Insgesamt bleibt die Situation ungewiss, und die Entscheidungen der neuen US-Regierung werden einen erheblichen Einfluss auf die Zukunft der Ukraine haben.