Die Kirchliche Kontaktstelle für Flüchtlingsfragen bat Adriana Romer, Juristin SFH um ihre Einschätzung. Dieser Beitrag ist in der Dezemberausgabe der AsylNews erschienen.
Die EU will ihr Gemeinsames Europäisches Asylsystem (GEAS) reformieren. Dabei sollen die Menschenrechte gewahrt und die Menschenwürde geschützt werden. So steht es in den Vorschlägen der Kommission für einen neuen Pakt zu Migration und Asyl vom 23. September 2020. Der Inhalt der Vorschläge entlarvt diesen Anspruch der EU an sich selbst als Lippenbekenntnis. Das Gemeinsame Europäische Asylsystem funktioniert nicht, das ist unbestritten. Doch bereits bei der Antwort auf die Frage, wo die Schwierigkeiten zu orten sind, endet Europas Einigkeit. Stattdessen zeigt sich das immense Spektrum staatlicher Partikularinteressen, die Realitätsferne der Politik und das Vakuum an Solidarität.
Solidarische Abschiebepartnerschaften
Solidarität bedeutet unbedingtes Zusammenhalten aufgrund gleicher Anschauungen und Ziele. Gerade in der Migrationspolitik sind die Staaten jedoch gespalten – von gleichen Anschauungen keine Spur. Die gleichen Ziele beschränken sich auf den kleinsten gemeinsamen Nenner: Abwehr, Abschreckung, Externalisierung. Diese Prioritäten prägen denn auch den neuen Pakt für Migration und Asyl. Zwar enthält er einen «Solidaritätsmechanismus», der in Zeiten «hohen Migrationsdrucks» greifen soll. Solidarität kann hierbei sowohl die Aufnahme von Menschen bedeuten, wie auch Abschiebungen zu unterstützen durch eine sogenannte Abschiebepatenschaft. Die eigentlichen Schwerpunkte bilden Grenzverfahren, die Stärkung von Frontex sowie eine vermehrte Zusammenarbeit mit Herkunfts- und Transitstaaten wie der Türkei und Libyen. Woher die Kommission die Überzeugung nimmt, dass ein System, das an der Missachtung seiner Regeln und am fehlenden politischen Willen der Mitgliedstaaten gescheitert ist, mit einem neuen Regelwerk plötzlich funktionieren sollte, bleibt ihr Geheimnis.
Umsetzen, was schon gilt
Das bestehende Regelwerk des GEAS ist mitnichten perfekt. Und doch enthält es sämtliche rechtlichen Grundlagen für ein funktionsfähiges System, welches auch Möglichkeiten zur Solidarität zwischen den Staaten enthält. Die jetzt geltende Dublin-III-Verordnung bietet eine rechtliche Grundlage für eine freiwillige Verantwortungsteilung – Spielraum, den die Staaten menschenfreundlich, grosszügig und solidarisch nutzen könnten. Es ist eine Frage des politischen Willens, an dem es auch in der Schweiz mangelt.
System der Systeme
Die Grundproblematik hinter der den Vorschlägen für einen neuen europäischen Migrationspakt lässt sich mit Retuschen und Reglementen kaum überwinden: Dem GEAS fehlt das gemeinsame Fundament. Es ist ein System der Systeme – der zum Scheitern verurteilte Versuch einer einheitlichen Herangehensweise von EU-Ländern, deren Ansätze im Umgang mit Flüchtlingen so unterschiedlich sind wie ihre Sozialsysteme. Die Folge: Selbst bei klaren und gut dokumentierten Menschenrechtsverletzungen wirkt die EU ohnmächtig und machtlos – seien es gewalttätige Push-Backs durch kroatische Behörden, die Weigerung Ungarns, die Grundbedürfnisse Asylsuchender abzudecken, die Weigerung Italiens oder Maltas, Schiffe mit aus Seenot geretteten Menschen anlanden zu lassen oder die Verwicklung der europäischen Agentur für Grenz- und Küstenwache Frontex in Push-Backs in der Ägäis.
Homöopathie aus der Schweiz
Europa drückt sich vor seiner Verantwortung – und die Schweiz lobt sich der Einreise einer zweistelligen Zahl unbegleiteter Kinder aus Griechenland, zu deren Übernahme sie aufgrund der Regeln der Dublin-III-Verordnung aber grösstenteils ohnehin verpflichtet gewesen wäre. Die offizielle Schweiz betont gerne ihre Aufnahmebereitschaft, knüpft diese aber an eine gesamteuropäische Lösung. Das reicht nicht. Die Anzahl Asylgesuche in der Schweiz sinkt seit Jahren kontinuierlich, 2020 waren es bis Ende September 7'753. Das lässt Raum für mehr Solidarität – mit den überforderten EU-Staaten, aber insbesondere mit den aufgrund staatlicher Überforderung oder politischem Unwillen leidtragenden Menschen auf der Flucht.
Aussicht
Inwieweit und in welcher Form der neue EU-Pakt in Kraft treten wird, ist unklar, es ist mit längeren Verhandlungen zu rechnen. Die Haltung Spaniens und insbesondere Italiens wird eine entscheidende Rolle spielen, wenn in Brüssel weiterverhandelt wird. Die Schweiz sitzt mit am Tisch. Ohne Stimmrecht zwar, aber mit einer Stimme. Sie sollte diese Stimme selbstbewusst erheben für die Einhaltung der Menschenrechte und die Wahrung der Menschenwürde – und zugleich Solidarität vorleben, die über Symbolik hinausgeht.
Der Schutz der Menschen und ihrer Rechte hat Priorität
Wünschenswert wäre ein Umschwenken des Fokus hin zur Aufrechterhaltung und zum Ausbau der Asyl- und Menschenrechtsstandards in Europa anstelle von Rückkehr und Abwehr. Das Sterben und die systematischen Menschenrechtsverletzungen vor Europas Toren müssen verhindert werden. Dazu sollten sichere und legale Zugangswege ausgebaut werden, so dass sich Menschen gar nicht erst auf die gefährliche Reise begeben müssen. Deals mit Ländern wie Libyen oder der Türkei sind Teil des Problems, nicht Teil der Lösung, sie müssen beendet und keinesfalls ausgebaut werden. Es braucht zudem eine Such- und Rettungsoperation im Mittelmeer, welche von der EU geleitet und finanziert wird, die diesen Namen auch verdient. Die oberste Priorität ist der Schutz der Menschen und ihrer Rechte. Daran sollte sich die EU als Friedensnobelpreisträgerin erinnern und daran sollte sie sich orientieren. Wenn das Fundament der gemeinsamen Grundwerte wieder hochgehalten wird, werden vielleicht auch gemeinsame und funktionierende Pakte realistisch.