«Jetzt verliere ich meine Kinder nicht mehr aus den Augen»

16. Juni 2021

Nach einer schwierigen Flucht und acht bangen Jahren voller Angst und Ungewissheit über das Verbleiben ihrer Familie, findet eine Flüchtlingsfrau endlich ihre drei Kinder wieder. Sie möchte sie rasch möglichst zu sich in die Schweiz holen – doch als vorläufig Aufgenommene sind die Hürden dafür sehr hoch.

Mit jedem Gesuch und jedem zusätzlichen Formular verstreicht wertvolle Zeit. Der psychische Druck und innere Stress ist kaum auszuhalten, aber die 49jährige F.D.* würde sich niemals beklagen: «Ich bin so froh und dankbar, dass ich hier an diesem Ort leben darf und eine Festanstellung bekommen habe. Das Rote Kreuz und die Schweizerische Flüchtlingshilfe helfen mir mit den Gesuchen und Formularen. Jetzt verliere ich meine Kinder nicht mehr aus den Augen», lächelt sie bescheiden. Acht Jahre lang war F.D. auf der Suche nach ihren Kindern und ihrem Ehemann. In ihrem Herkunftsort gab es damals, als sie flüchten musste, weder Internetzugang noch Telefonanschluss; auf diese Weise konnte sie weder den Kindesvater noch ihre Kinder suchen. Also kontaktierte sie unermüdlich sämtliche Diaspora-Gemeinden in der Schweiz und Europa persönlich und reiste für die Suche nach ihrer Familie drei Mal in die Nähe ihres Herkunftslands. «Ich habe überall die Orte und Feste meiner Landsleute besucht, alle angesprochen, viele Zettel verteilt, damit alle von meiner Suche wissen», erzählt sie. Und tatsächlich, Ende 2019 meldete ein Bekannter; er habe gehört, dass drei Geschwister im Alter von 9, 14 und 17 Jahren aus ihrer Region in einem Nachbarsland angekommen seien! Tränen der Freude schiessen F.D. in die Augen: «Anfang Februar 2020 habe ich zum ersten Mal mit meinen Kindern telefoniert, ich kann es kaum beschreiben, wir weinten einfach alle vier die ganze Zeit vor Freude und Erleichterung.» Seither telefonieren sie einmal die Woche. Doch inzwischen stellen ihre Kinder stets die gleiche quälende Frage: «Mama, wann sehen wir uns endlich?» Sie sind derzeit bei jenem Bekannten, der sie ausfindig gemacht hat. Der Bekannte hat selbst Familie und einen kleinen Geschenkladen, jedoch weder Zeit noch Geld für sie. F.D. versorgt sie mit Geldbeträgen, die sie reisenden Landsleuten mitgibt. Die Jugendlichen gehen weder zur Schule, noch sind sie irgendwie kindesgerecht beschäftigt oder betreut. Wo sich ihr Vater aufhält, wissen sie nicht, und auch F.D. konnte es nicht herausfinden.

«Meine Kinder, meine Arbeit und die lieben Menschen hier helfen mir, nicht zu verzweifeln.»

Kriterien erfüllt

«F.D. ist schon seit 2017 selbständig und braucht kaum noch Beratung», erzählt ihre SRK-Betreuerin Kerstin Lötscher. «Als sie im Februar 2020 in mein Büro kam, da wusste ich, jetzt geht es um etwas sehr Wichtiges.» In der Tat: F.D., die im Juni 2015 nach einer erfolgreichen Beschwerde als Flüchtlingsfrau vorläufig aufgenommen worden war, bittet um Unterstützung für das Formulieren eines dringenden Antrags auf Familiennachzug an die entsprechende kantonale Dienststelle für Bevölkerung und Migration. Inzwischen erfüllt sie die strengen Nachzugskriterien für vorläufig Aufgenommene, unter anderem Verständigung in einer Landessprache, genügend grossen Wohnraum für die Familie und wirtschaftliche Unabhängigkeit. Seit 2018 erzielt sie mit einer 90-Prozent-Festanstellung das höchstmögliche Einkommen in der Schweiz, das mit ihrem Bildungsstand und ihrer Arbeitserfahrung möglich ist. «Ihre Arbeitgeberin ist sehr zufrieden mit ihr, unterstützt den Familiennachzug und würde ihr mit der Dienstplanung entgegenkommen. Sie könnte also ihre schulpflichtigen Kinder selbstständig betreuen, ohne das Arbeitspensum reduzieren zu müssen», erklärt Kerstin Lötscher. Die zwei Minderjährigen würden am Wohnort sofort eingeschult, die Volljährige bei der nahen Volkshochschule für Deutschkurse angemeldet. Zudem habe die Arbeitgeberin angeboten, die Jugendlichen für den raschen Spracherwerb zu unterstützen.

Das einzige, was F.D. aus gutem Grund nicht einhalten kann, sind die Fristen. Vorläufig Aufgenommene müssen nach der dreijährigen Wartefrist für Kinder, die über 12 Jahre alt sind, innerhalb von 12 Monaten ein Nachzugsgesuch stellen. Kerstin Lötscher lässt sich in der juristischen Sprechstunde der Schweizerischen Flüchtlingshilfe (SFH) beraten, bittet um Expertise und Prüfung des Gesuchentwurfs. SFH-Juristin Angela Stettler kommt zum Schluss, dass F.D. die wirtschaftlichen Auflagen für einen Nachzug erfülle und dass für den verspäteten Familiennachzug wichtige familiäre Gründe vorliegen, die nicht beeinflussbar waren. «Das Kindeswohl und das Recht auf Familienleben sollten in diesem Fall höher gewichtet werden», so die Juristin. Hoffnungsvoll reicht F.D. ihr Gesuch im März 2020 ein: «Ich vertraue dem SRK und der Flüchtlingshilfe, doch ich bin schon ein wenig gestresst und mache mir Sorgen um die Kinder», kommentiert sie ihr Befinden.

Realitätsfremd

Was sich im Herbst 2020 mit dem negativen Vorentscheid der kantonalen Behörden ankündigt, bewahrheitet sich schliesslich im Februar 2021 mit der niederschmetternden Stellungnahme der Bundesbehörden zum Gesuch F.D.: Bereits die Verfolgungsgründe im Asylverfahren seien «stereotyp, realitätsfremd und konstruiert» gewesen, entsprechend auch die Erzählung im vorliegenden Familiennachzugsgesuch über die Suche, die Flucht und das Auffinden der Kinder. Das Kindeswohl sei am aktuellen Aufenthaltsort und wegen des jugendlichen Alters der Kinder nicht tangiert, eine Integration in die Schweiz käme einer weiteren Entwurzelung gleich. Zudem müsse das alleinige Sorgerecht der Mandantin zwingend nachgewiesen werden.
«Für F.D. ist diese Antwort eine Tortur, für uns schlicht unverständlich», kommentiert Kerstin Lötscher das Schreiben aus Bern. SFH-Juristin Angela Stettler rät, sofort mithilfe der Rechtsberatungsstelle im betreffenden Kanton eine Beschwerde einzureichen. Sie sagt: «Die Behörden ziehen damit seltsamerweise den Asylentscheid für F.D. von 2015, nämlich die Anerkennung der Fluchtgründe durch das Bundesverwaltungsgericht, wieder in Zweifel.» Noch im März 2021 nimmt F.D. Stellung zu den massiven Vorwürfen, legt dem Schreiben einen Brief eines ihrer Kinder bei. Jetzt wartet und bangt sie wieder: «Meine Kinder, meine Arbeit und die lieben Menschen hier helfen mir, nicht zu verzweifeln.»

* anonymisiert

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