Interview: Barbara Graf Mousa, Redaktorin SFH / Foto: Djamila Grossman, www.djamilagrossman.com
2005 kamst du nach langer Flucht mit deiner Familie in die Schweiz. War die Schweiz für dich und deine Familie damals ein sicherer Ort?
Maryam Sediqi: Meine Eltern hatten uns Kindern versprochen, dass unsere Reise in der Schweiz endet und wir hier bleiben werden. Wir waren sehr glücklich darüber, sie wollten uns Kindern eine bessere Zukunft ermöglichen. Natürlich war die Schweiz von Anfang an ein sicherer Ort für uns. Was danach auf uns zukam, konnten wir nicht vorhersehen, damals fühlten wir uns einfach sicher und hoffnungsvoll, bereit für eine bessere Zukunft.
Was kam danach auf euch zu?
Der Asylantrag meines Vaters wurde 2006 unrechtmässig abgelehnt. Ich unterstützte ihn im Verfahren, und so begann mein Engagement für Flüchtlinge in der Schweiz.
Oft mit erfolgreichem Ausgang, oder?
Ja, seitdem habe ich vielen Frauen geholfen, Briefe verfasst und Verfahren begleitet, damit sie in der Schweiz als Flüchtlinge anerkannt werden. Mein jüngster Fall betraf meine Tante. Nach zwei Jahren intensiven Einsatzes konnte ich das Bundesverwaltungsgericht davon überzeugen, dass ihre Unterlagen vom Staatssekretariat für Migration (SEM) erneut geprüft wurden. Schliesslich erhielt sie die Aufenthaltsbewilligung B.
Inwieweit unterscheiden sich die Schutzbedürfnisse von geflüchteten Menschen?
Die Fluchterfahrungen sind oft sehr unterschiedlich. Manche Menschen haben auf ihrem Weg enorm gelitten und empfinden allein die Ankunft in einem sicheren Land bereits als grosse Erleichterung. Andere, die weniger traumatische Erlebnisse hatten, haben möglicherweise höhere Erwartungen an das Aufnahmeland, etwa in Bezug auf Unterstützung und Integration.
Gibt es ein grundlegendes Schutzbedürfnis, das durch die Fluchterfahrung bei vielen Menschen ähnlich geprägt ist?
Die Anerkennung des Asylantrags und die Gewährleistung eines sicheren Aufenthalts ist für geflüchtete Menschen grundlegend. Erst dann können sie sich auf integrierende Aspekte im neuen Leben, wie Sprache, Bildung und Arbeit, konzentrieren.
Was unterstützt das Gefühl von Sicherheit afghanischer Frauen in der Schweiz?
Viele afghanische Frauen, die in die Schweiz kommen, sind traumatisiert, erschöpft und haben eine lange, oft schwierige Reise hinter sich. Die Behörden sollten sicherstellen, dass ihre Asylanträge fair und rechtmässig geprüft werden und langfristige Aufenthaltsbewilligungen gewährt werden. Das ist ein zentraler Schritt zur Integration und gibt ihnen die Möglichkeit, in der neuen Umgebung schneller anzukommen und sich zu entfalten.
Gibt es weitere Aspekte?
Drei Faktoren sind besonders entscheidend, der Aufenthaltsstatus, die Unterkunft und die familiäre Einbindung. Ein sicherer und langfristiger Aufenthaltsstatus gibt den Frauen das Gefühl von Stabilität und Sicherheit, das sie benötigen, um sich auf Integration, Arbeitssuche und das Erlernen der Sprache zu konzentrieren. Eine stabile, angemessene Unterkunft ist essenziell und Unterstützung durch die Familie oder ein soziales Netzwerk fördert das Wohlbefinden und erleichtert den Integrationsprozess wesentlich.
Was kann die Bevölkerung beitragen, damit der Integrationsprozess gelingt?
Ich wünsche mir mehr Toleranz, Akzeptanz und Verständnis. Vorurteile und Stereotypen erschweren das Zusammenleben. Jeder Mensch verdient eine faire Chance, unabhängig von Religion, Hautfarbe oder äusserlichem Erscheinungsbild. Ein Beispiel ist das Tragen des Kopftuchs: Es ist für die Frauen oft Ausdruck ihres Glaubens und ihrer Lebenseinstellung, nicht unbedingt ein Symbol der Unterdrückung. Die Entscheidung der Frauen, es zu tragen oder nicht, sollte respektiert werden; Frauen sollten in der Schweiz die freie Wahl haben, ohne dafür beurteilt zu werden.
Welche Rolle spielt die Diaspora für Schutz und Sicherheit?
Das ist unterschiedlich. Sicher gibt es Halt, Schutz und eine gewisse Geborgenheit, sich in der bekannten Kultur und Sprache unterhalten zu können, von denjenigen, die schon lange da sind, zu lernen, wie man sich hier bewegt. Diasporas können Vorbilder vermitteln und Empowerment geben, sind allerdings oft auch sehr heterogen. Viele Generationen und Ethnien gehören dazu und damit eben auch viele unterschiedliche Haltungen und Ansichten. Das kann auch einengend sein.
Viele Schweizerinnen würden gerne Kontakt knüpfen zu afghanischen Frauen – was könnten sie dafür tun?
Sie können gerne afghanische Communities oder Vereine kontaktieren und an Veranstaltungen teilnehmen, um erste Berührungspunkte zu schaffen. Afghanische Frauen und Männer sind sehr gastfreundlich und freuen sich über neue Kontakte. Eine offene und wertschätzende Haltung hilft dabei, Brücken zu bauen.
Werden afghanische Frauen in der Schweiz Ihrer Meinung nach in den Medien vorurteilsfrei und offen dargestellt, oder gibt es Stereotypen?
Ja, das passiert leider oft. Aus meiner eigenen Erfahrung als afghanische Frau kann ich sagen, dass ich mich ständig beweisen musste, um ernst genommen zu werden – sei es in der Gesellschaft oder im Arbeitsumfeld. Sobald Menschen erfahren, dass ich aus Afghanistan komme, werde ich oft mit Mitleid behandelt oder in eine Opferrolle gesteckt. Solche Vorurteile machen es schwer, die eigenen Fähigkeiten und Stärken zu zeigen. Viele Menschen vertrauen blind auf die Medien und denken, dass alle Afghaninnen ein einheitliches, klischeehaftes Leben führen. Dabei sind wir vielfältig, und unsere Wurzeln sind eine Bereicherung. Wir sind oft mehrsprachig, flexibel und haben die Fähigkeit, uns schnell anzupassen. Diese Stärken sollten mehr anerkannt werden.
Was kann diesem Bild entgegenwirken?
Diversität ist hier der Schlüssel. Wir müssen lernen, in einer vielfältigen Gesellschaft zusammenzuleben und alle einzubinden. Vorurteile sind oft unbewusst, aber wir alle haben die Fähigkeit, uns damit auseinanderzusetzen und sie zu hinterfragen. Wenn wir die Gründe hinter unseren Vorurteilen erkennen, haben wir schon einen grossen Teil der Lösung in der Hand. Für ein harmonisches Zusammenleben braucht es Toleranz, Respekt und die Bereitschaft, sich mit anderen Lebensrealitäten auseinanderzusetzen.
«Die Stimme»
Maryam Sediqi schloss im Januar 2024 an der Hochschule Luzern (HSLU) den Master of Science in Business Administration, Online Business und Marketing ab. Sie wurde in Afghanistan geboren und kam im Jahr 2005 nach einer langen Flucht mit ihrer Familie in die Schweiz. Im Dezember 2021 gründete sie mit Khaleda Sajjadi Maeder, Ärztin, und Homayra Sajjadi Danishyar, Betriebswirtschaftlerin, den Verein «Afghan Women Association Switzerland» (AWAS, auf Farsi «Die Stimme). Die Flüchtlingsorganisation unterstützt mit Projekten sowohl Frauen in Afghanistan als auch die Integration von Afghaninnen in der Schweiz.
Lesen Sie dazu das Interview mit den Gründerinnen von AWAS ((Link))