«Menschen menschlich zu behandeln, ist ein guter Weg, um KriminalitÀt zu verhindern»

10. MĂ€rz 2025

Jedes Jahr veröffentlicht das Bundesamt fĂŒr Statistik im MĂ€rz die polizeiliche Kriminalstatistik. In der Folge laden Kantone und Gemeinden zu regionalen PressegesprĂ€chen ein. Meist gilt dann ein besonderes Augenmerk den Beschuldigten mit Migrations- und Fluchthintergrund. Die Fluchtpunkt-Redaktion hat den Kriminologen Dirk Baier befragt, wie die Kriminalstatistik einzuordnen ist.

Interview: Barbara Graf Mousa, Redaktorin SFH 

Professor Baier, warum begehen Menschen Straftaten? 

FĂŒr kriminelles Verhalten sind vor allem die zwei Bereiche Sozialisation und Situation ausschlaggebend. Bei Sozialisationen geht es darum, was wir von Kindesbeinen auf erlebt haben: Wie haben wir unsere Eltern erlebt, wie friedlich oder wenig friedlich haben sie sich benommen und haben uns dadurch ein Vorbild geliefert? Was haben wir im schulischen Rahmen mit unseren Freundinnen und Freunden erlebt, wie ticken sie? Das fĂ€rbt alles auf uns ab. Dazu wird in der Kriminologie immer die Persönlichkeitseigenschaft der Selbstkontrolle als sehr wichtig erachtet. Wie stark haben wir in dieser Sozialisationszeit erlebt, dass wir uns zurĂŒcknehmen, dass wir ein bisschen mitkalkulieren, wie unser Verhalten sich in Zukunft auswirken könnte.  

Was ist mit dem zweiten Bereich, der Situation? 

Hier geht es um die unmittelbar situativen Bedingungen, beispielsweise: Werden wir provoziert, beleidigt uns jemand, beleidigt jemand unsere Familie? Das kann uns aggressiv machen. Oder sind wir alkoholisiert oder stehen wir unter anderen Drogen? Auch das ist situativ und kann viele Menschen dazu motivieren, Dinge zu tun, die sie sonst nicht tun wĂŒrden. Sind wir in Gruppen unterwegs oder allein? Ist die Polizei gerade in der NĂ€he? Aber auch Ereignisse wie eine Arbeitslosigkeit oder eine Trennung sind mögliche situative Einflussfaktoren, die Stress und ZukunftsĂ€ngste auslösen. Das kann uns zu Taten verleiten, die wir sonst nicht unbedingt tun wĂŒrden. lch denke, jede und jeder kann in Situationen kommen, wo das Begehen einer Straftat möglich ist. Es hat etwas mit den Bedingungen zu tun, denen wir ausgesetzt sind. 

Gibt es relevante Faktoren speziell im FlĂŒchtlingsbereich? 

Die Frage nach erlebten Traumata ist gerade im FlĂŒchtlingsbereich ein relevanter Faktor. Traumata können sehr breit sein: Verlust wichtiger Personen, schwere Übergriffe, sexuelle Übergriffe, physischer und psychischer Missbrauch, ein Leben in Hunger und anderer Not. Das prĂ€gt unsere Persönlichkeit mit und beeinflusst unsere Einstellungen und unser Moralempfinden; zum Beispiel, ob wir positiv oder negativ zu GesetzesĂŒbertritten stehen. 

Welchen Delikten sind Asylsuchende selbst in den UnterkĂŒnften ausgesetzt?  

Wir haben in der Schweiz zurzeit keine Befunde aus Befragungen unter der Asylbevölkerung. Eine Studie der Ruhr-UniversitĂ€t Bochum aus Deutschland ist mir aber im Kopf geblieben, die tatsĂ€chlich GeflĂŒchtete in UnterkĂŒnften befragt hat. Da geht es um Bedrohungen beispielsweise, körperliche Auseinandersetzungen, also erwartbare Konflikte, wenn viele junge mĂ€nnliche Personen eng zusammenleben.  

Welche Angaben findet man zur KriminalitĂ€t von Asylsuchenden in der Statistik 2023?  

2023 wurden 4,4 Prozent der Asylsuchenden als Beschuldigte einer Straftat polizeilich registriert, das sind knapp 6'000 Personen. Es geht dabei meistens um Straftaten mit geringem Schaden. 95,6 Prozent, also mehr als 9 von 10 halten sich an Recht und Gesetz, obwohl sie keine einfache Situation hier haben. Bei den Schweizerinnen und Schweizern waren es 0,6 Prozent, d.h. unter den Asylsuchenden sind es etwa siebenmal so viele Beschuldigte wie unter den Schweizern. Es gibt diese Höherbelastung, die im Übrigen kein Kriminologe leugnet. Aber aus meiner Sicht sind die Unterschiede am Ende klein, plausibel und deutbar, wenn man die LebensumstĂ€nde, die Sozialisation, die Flucht mitberĂŒcksichtigt.  

70 Prozent aller Inhaftierten haben keinen Schweizer Pass. Hat die Staatsangehörigkeit etwas mit KriminalitĂ€t zu tun? 

Staatsangehörigkeit oder Geburtsland sind keine kriminogenen Bedingungen. Das sind kriminologisch völlig uninteressante Merkmale, weil sie nie ursĂ€chlich fĂŒr kriminelles Verhalten sind. Ich kenne keine Herkunftsgruppe, keine Gruppe von Staatsangehörigkeit, keine ethnische Gruppe, bei der die Mehrheit kriminell wĂ€re. Vielmehr ist es bei jeder Staatsangehörigkeitsgruppe eine kleine Minderheit, die mit KriminalitĂ€t in Erscheinung tritt. Man kann sich das auch sehr einfach vorstellen: Wenn wir beispielsweise auslĂ€ndischen Inhaftierten die Schweizer Staatsangehörigkeit schenken und sie verlassen morgen den Strafvollzug, sind sie deshalb morgen nicht mehr kriminell? Die Antwort lautet nein; die Staatsangehörigkeit allein bewirkt das nicht. Die Zahl ist im Übrigen auch deshalb so hoch, weil wir auslĂ€ndische Personen schneller in Strafvollzug schicken als schweizerische Personen. 

Warum steht dennoch so hĂ€ufig die KriminalitĂ€t von AuslĂ€nderinnen und AuslĂ€ndern im Fokus? 

Weil es statistisch gesehen durchaus AuffĂ€lligkeiten gibt, diese aber zu wenig kritisch gewĂŒrdigt werden. Kriminalstatistiken sind sogenannte Hellfeld-Statistiken, sie bilden nur den Teil der KriminalitĂ€t ab, der der Polizei zur Kenntnis gelangt. Das ist nur ein Ausschnitt. Was kommt der Polizei zur Kenntnis? Das, was angezeigt wird und wir wissen, dass Personen, die auslĂ€ndisch aussehen, auslĂ€ndisch sprechen, tendenziell eher angezeigt werden, als wenn dieselbe Straftat von einem Schweizer oder einer Schweizer begangen wird. Das hat vielleicht mit sprachlichen VerstĂ€ndigungsmöglichkeit zu tun und das hat vielleicht doch etwas mit Fremdenfeindlichkeit zu tun.  

Gibt es Daten zur Fremdenfeindlichkeit in der Schweiz? 

Im Durchschnitt gibt es hier in der Schweiz einen konstanten Anteil von 25 Prozent auslĂ€nderfeindlicher Menschen. Wir messen die AuslĂ€nderfeindlichkeit regelmĂ€ssig mit Befragungen, etwa Zustimmung oder Ablehnung von auslĂ€nderfeindlichen Statements. Ähnlich wie in Deutschland gibt es eine Grundmenge von Personen, eben etwa ein Viertel, die auslĂ€nderfeindlich denken, was noch lange nicht heisst, dass sie sich so verhalten. Aber das ist ein Thema, das durch die Anzahl Anzeigen ganz kurz aufblitzt: Skepsis gegenĂŒber auslĂ€ndischen Menschen bei Eigentumsdelikten, Bedrohungen im öffentlichen Raum, die dazu fĂŒhrt, dass man dann den AuslĂ€nder eher anzeigt, als wenn das ein Schweizer gewesen ist. Die Anzeigebereitschaft spielt also eine Rolle, die man nicht unterschĂ€tzen sollte.  

Welche Rolle spielt das «Racial Profiling», also wenn die Polizei Personen aufgrund von Hautfarbe oder vermuteter Religionszugehörigkeit einer bestimmten Personengruppe zuordnet und pauschal als verdĂ€chtig behandelt? 

Straftaten, wie zum Beispiel DrogenkriminalitĂ€t kommen in das polizeiliche Hellfeld durch die KontrollaktivitĂ€ten der Polizei. Die Polizei hat gewisse Raster im Kopf, wenn sie solche Kontrollen vornimmt und damit verbunden ist das Thema «Racial Profiling». Es gibt Hinweise, dass die Polizei selektiv bestimmte Gruppen stĂ€rker, andere weniger oder nicht kontrolliert, und damit dazu beitrĂ€gt, dass AuslĂ€nderkriminalitĂ€t schneller in den Kriminalstatistiken sichtbar wird. Dazu kommt, dass die auslĂ€ndische Bevölkerung tendenziell jĂŒnger, tendenziell mĂ€nnlicher und tendenziell weniger gebildet ist und diese Zusammensetzung der Gruppe abweichend ist zu derjenigen der Schweizer. Das sind alles Merkmale, die mit KriminalitĂ€t assoziiert sind. Doch Bildungsgrad und Einkommensschicht werden in Kriminalstatistiken nicht erfasst, sondern nur Alter, Geschlecht und Staatsangehörigkeit. Also kann man dieselben Statusgruppen nicht miteinander vergleichen.  

Was bedeutet das fĂŒr die Kriminalstatistik? 

Die Veröffentlichung des Bundesamts fĂŒr Statistik, das ja schweizweit die polizeiliche Kriminalstatistik fĂŒhrt, ist hochsolide und enthĂ€lt klare Hinweise ĂŒber die Begrenztheit. Aber wer liest sich den Vierzigseiter noch durch? In den Kantonen werden noch einmal eigene Berichte gemacht und PressegesprĂ€che mit Politikern veranstaltet, die die Zahlen in einer bestimmten Weise lesen. Am Schluss kommt in den Medien und in den Köpfen der Bevölkerung an, dass es einen Anstieg gab und die Asylsuchenden daran schuld sind. Dass es dabei hauptsĂ€chlich um EigentumskriminalitĂ€t geht und nicht um eine beunruhigende Form von KriminalitĂ€t wie Körperverletzung oder sexueller Gewalt wird nicht gesagt. So geschehen, als in ZĂŒrich die Kriminalstatistik vorgestellt und sehr stark auf die abgewiesenen algerischen Asylbewerber eingegangen wurde. Aus meiner Sicht ist das kein sensibler Umgang, wenn man bei den Kriminalstatistiken eine Gruppe so herausgreift. 

Eine unzureichende Einordnung, die politisch beabsichtigt sein könnte? 

Nehmen wir das Beispiel der internationalen MobilitĂ€t, die im Jahr 2023 wieder enorm zugenommen hat, weil alle ReisebeschrĂ€nkungen, die wir noch durch Corona hatten, aufgehoben wurden. Diese VerĂ€nderung findet sich nicht in den Bevölkerungszahlen. Die Bevölkerung ist um ein Prozent gewachsen, gleichzeitig ist diese MobilitĂ€t grundsĂ€tzlich um sehr, sehr viel mehr Prozent gestiegen. Das macht dann auch verstehbar, warum die KriminalitĂ€tszahlen steigen, weil eben auch wieder mehr Kriminaltouristen hergekommen sind. Solche Einordnungen finden immer noch viel zu wenig statt. Statt einer sachlichen Analyse der KriminalitĂ€tsentwicklung findet mehr oder weniger eine Politisierung statt. Mit den KriminalitĂ€tszahlen legt man fest, wer schuld ist an einem Anstieg und kann dann als nĂ€chstes sofort strengere Massnahmen in Bezug auf bestimmte Gruppen fordern. Ich wĂŒrde mir eine nĂŒchternere Auseinandersetzung mit den KriminalitĂ€tszahlen wĂŒnschen.  

Was kritisieren Sie genau mit Blick auf die Vorstellung der Statistik in der Öffentlichkeit?  

Die SelektivitĂ€t, die fehlende Kontextualisierung und mittlerweile diese rassistischen Narrative, die dahinterstecken. Das sind aus meiner Sicht die Hauptprobleme, und die haben zur Folge, dass tatsĂ€chlich dann eine Art Bedrohungsbild aufgebaut wird. Wir wissen das aus der Rechtsextremismus- und Vorurteilsforschung, dass die Bevölkerung sensibel ist fĂŒr solche Bedrohungsszenarien. Wenn kommuniziert wird, dass bestimmte Gruppen wie zum Beispiel algerische Asylsuchende fĂŒr kriminelle Handlungen verantwortlich sind, wird diese Gruppe als eine sozial-kulturelle Bedrohung aufgebaut. Darauf reagieren wir dann mit Vorurteilen gegenĂŒber diesen Gruppen. 

Wenn die Existenzen gesichert sind, die Sozialhilfeleistungen adĂ€quater gestaltet sind, nimmt dann auch die KleinkriminalitĂ€t ab?  

Es gab eine Studie ĂŒber den Zusammenhang zwischen Asylsozialhilfe und KleinkriminalitĂ€t unter Mitwirkung der ETH ZĂŒrich. Die Studie ist beeindruckend, weil sie methodisch ĂŒberzeugend ist. Man hat hier mehr oder weniger eine Gelegenheit genutzt: Vor ein paar Jahren wurden in der Schweiz im Kanton Luzern der Sozialhilfesatz gesenkt und im Kanton ZĂŒrich der Sozialhilfesatz erhöht. Das war eine Art natĂŒrliches Experiment, das man nutzen konnte, um zu prĂŒfen, wie sich die KriminalitĂ€t von der spezifischen Gruppe, auf die sich die Massnahme gerichtet hat, entwickelt hat. Mit Blick auf die EigentumskriminalitĂ€t, beispielsweise KleinkriminalitĂ€t wie LadendiebstĂ€hle, gab es im Kanton ZĂŒrich eine Reduktion und im Kanton Luzern einen Anstieg. Aber es gab in keiner Weise eine Explosion oder eine Implosion.  

BestĂ€tigt damit die Studie diese Annahme? 

Es ist wichtig, dazu zu sagen, dass eine einzelne Massnahme nie ausreicht, um eine starke VerhaltensverĂ€nderung zu erzeugen. Um gesicherte Erkenntnisse zu erhalten, mĂŒsste man solche Studien mehrfach wiederholen. Aber die Studie weist meiner Meinung darauf hin: Menschen menschlich zu behandeln, ist ein guter Weg, um KriminalitĂ€t zu verhindern. Und eben, das wissen wir in der Kriminologie eigentlich seit ĂŒber 100 Jahren. Franz von Liszt, ein deutscher Kriminologe (1851-1919), hat schon gesagt, die beste Kriminalpolitik ist eine gute Sozialpolitik, die versucht, Menschen in schwierigen Lebenssituationen zu helfen. Am Ende geht es aber nicht um 2, 3 oder 4 Franken mehr Sozialhilfe, sondern am Ende geht es um Perspektiven. An denen muss man arbeiten. 

Und wenn sie keine Perspektive mehr haben, wie beispielsweise Asylsuchende mit einem Wegweisungsentscheid?  

Wenn sie keine Perspektive haben, dann ist es auch nur richtig, dass man versucht, sie dann schnell in ihr Heimatland zurĂŒckzufĂŒhren, statt sie hier in der Schweiz noch mehrere Jahre in so einem Schwebezustand zu lassen. Die Menschen wissen, hier gibt es keine Zukunft. Ich stelle mir so eine Situation unglaublich belastend vor. Die Lust, sich noch an Regeln zu halten in einem Land, in dem man keine Perspektiven hat, ist dann eher gering. Von daher sollte man fĂŒr Personen mit Integrationsperspektive alles tun, dass sie möglichst schnell auf eigenen Beinen stehen können. Auch fĂŒr die Asylsuchenden ist es nicht die Grundidee, hierher zu kommen und möglichst lange und gut staatlich gefördert zu sein. Nein, das sind in der Regel motivierte Menschen, die auch diese Flucht auf sich genommen haben, weil sie sich einbringen wollen, beruflich etwas erreichen wollen.

Professor Dr. Dirk Baier ist Kriminologe an der ZĂŒrcher Hochschule fĂŒr Angewandte Wissenschaften (ZHAW), wo er seit 2015 das Institut fĂŒr Delinquenz und KriminalprĂ€vention leitet. Er lehrt zudem als Ausserordentlicher Professor fĂŒr Kriminologie an der UniversitĂ€t ZĂŒrich (UZH). Die Forschungsgebiete des gebĂŒrtigen Sachsen liegen im Bereich der JugendkriminalitĂ€t, der Gewalt- und Extremismusforschung.

Worauf fusst die schweizerische Kriminalstatistik?

Die polizeiliche Kriminalstatistik zeigt Umfang, Struktur und Entwicklung polizeilich registrierter Straftaten sowie beschuldigter und geschĂ€digter Personen. Sie enthĂ€lt alle in den Kantonen polizeilich registrierten Straftaten nach Strafgesetzbuch (StGB), BetĂ€ubungsmittelgesetz (BetmG) sowie AuslĂ€nder- und Integrationsgesetz (AIG). Die jedes Jahr im MĂ€rz veröffentlichten Ergebnisse zur KriminalitĂ€t in der Schweiz resultieren aus einer indirekten Messung, die sich auf die bekannt gewordene, also nicht tatsĂ€chliche KriminalitĂ€t stĂŒtzt: Polizeiliche Kriminalstatistik 2023 

FĂŒr faire Chancen. Gemeinsam fĂŒr GeflĂŒchtete.

Jetzt spenden