Aufhebung von vorläufiger Aufnahme muss verhältnismässig sein

19. November 2020

Das Staatssekretariat für Migration (SEM) muss bei der Aufhebung von vorläufigen Aufnahmen in jedem Fall die Verhältnismässigkeit prüfen. Das legt das Bundesverwaltungsgericht in einem neuen Grundsatzurteil fest: Wie gut integriert Betroffene sind, ist dabei zwingend zu berücksichtigen.

Das Bundesverwaltungsgericht (BVGer) pfeift das SEM zurück. Dieses hat 2019 die vorläufige Aufnahme eines jungen Eritreers aufgehoben und seine Abschiebung angeordnet – ohne zu prüfen, ob diese Verfügung und deren Folgen für den Betroffenen verhältnismässig sind. Genau dies hätte die Behörde aber tun müssen, rügt nun das BVGer in einem jüngst publizierten Grundsatzurteil (E-3822/2919 vom 28.10. 2020), mit dem es den SEM-Entscheid rückgängig macht.

Die BegrĂĽndung: Auf dem Status F basiere ein Lebensplan in der Schweiz. Daher könne der Verlust der vorläufigen Aufnahme nach Jahren des rechtmässigen Aufenthalts hier die Situation der Betroffenen einschneidend verändern. Die Aufhebung einer vorläufigen Aufnahme mĂĽsse deshalb auch mit anderen Kriterien geprĂĽft werden als deren Gewährung, so das Gericht. Mit anderen Worten: Massgebend ist nicht allein, ob der Vollzug der Wegweisung zulässig ist und das SEM die Ausreise in einen Drittstaat oder die RĂĽckkehr in den Heimatstaat als möglich und zumutbar beurteilt. Zu berĂĽcksichtigen ist im Einzelfall vielmehr auch zwingend die Integration der Betroffenen in der Schweiz. Was generell beim Widerruf von Aufenthaltsbewilligungen gelte, stellt das BVGer klar, sei auch bei der Aufhebung einer vorläufigen Aufnahme anzuwenden: das Prinzip der Verhältnismässigkeit. 

Gericht wĂĽrdigt IntegrationsbemĂĽhungen

Wie notwendig das ist, zeigt der vorliegende Fall geradezu exemplarisch: Der junge Eritreer ist gerade volljährig geworden, als er 2015 in der Schweiz ankommt – geflohen aus dem Unrechtsregime in seiner Heimat, um dem drohenden Zwangseinzug zum Nationaldienst zu entgehen. Asyl erhält der junge Eritreer damals zwar nicht, aber das SEM gewährt ihm die vorläufige Aufnahme in der Schweiz. Umgehend beginnt der 18-Jährige, sich in der Waadt Schritt für Schritt ein neues Leben aufzubauen: Er belegt Französischkurse, lernt innert Kürze die Sprache, schreibt Bewerbungen, absolviert Praktika, übernimmt Temporärjobs. Schliesslich macht er eine Lehre als Elektriker. Er ist hoch motiviert und allseits geschätzt – kurzum: gut integriert, auf dem Weg zur finanziellen Selbständigkeit.

Anders als das SEM berücksichtigt das BVGer diese Entwicklung in der Beurteilung des Falles und kommt nach einer Interessenabwägung zum Schluss, dass die vorläufige Aufnahme des Eritreers aufrechterhalten werden muss: Der junge Mann habe in den letzten fünf Jahren «besonders grosse Anstrengungen unternommen, um eine Ausbildung zu absolvieren und sich rasch in den Arbeitsmarkt zu integrieren». Eine Aufhebung seines Status würde diese Bemühungen zunichtemachen. Das Interesse des Antragstellers, in der Schweiz zu bleiben, überwiege daher das öffentliche Interesse an seiner Abschiebung.

Aufhebung fĂĽhrt faktisch ins Elend der Nothilfe

Was das Gericht nicht sagt: Faktisch hätte es bedeutet, dass der junge Eritreer in der Schweiz nicht mehr arbeiten darf und von einem Tag auf den andern im Elend und der Perspektivlosigkeit der Nothilfe landet. Dieses unwürdige Schicksal droht indes allen Eritreerinnen und Eritreern, deren vorläufige Aufnahme aufgehoben wird. Denn in ihre Heimat zurückkehren können die Betroffenen nicht, da in der Diktatur am Horn von Afrika Menschenrechtsverletzungen nach wie vor an der Tagesordnung sind – und Zwangsrückführungen lehnt das eritreische Regime ab. Deshalb begrüsst die SFH zwar den wichtigen Grundsatzentscheid des BVGer. Sie bekräftigt aber zugleich ihre Forderung, angesichts der unverändert prekären Lage in Eritrea von der Aufhebung der vorläufigen Aufnahme von Eritreerinnen und Eritreer generell abzusehen.

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