Geflüchtete: Potenzial umfassend nutzen

07. Mai 2024

Viele Geflüchtete verfügen über eine gute Grundbildung und das Potenzial, in der Schweiz eine Ausbildung an einer Hochschule zu absolvieren. Der Weg ist aber trotz spezifischer Integrationsförderung nicht immer einfach. Grund zu Zuversicht geben verschiedene Projekte an Schweizer Hochschulen und politische Vorstösse für den vereinfachten Zugang zu Stipendien und Tertiärausbildungen.

Raphael Strauss, Fachreferent Integration

G.S. ist mit 15 Jahren aus Syrien in die Schweiz geflüchtet. Gut zwei Jahre später studiert sie Medizininformatik, heute arbeitet sie im Fachbereich Controlling und Reporting des Schweizerischen Roten Kreuzes Kanton Bern. R.J. war Ingenieur im Irak und studierte Politikwissenschaft, bis er 2015 in die Schweiz kam, wo er nun eine Ausbildung zum Informatiker absolviert. D.P. studierte in Kiew Marketing, bevor sie im Frühling 2022 in die Schweiz flüchtete. Sie besucht aktuell das Vorbereitungsjahr «Kompass» der Universität Bern.

Diese Beispiele zeigen, welche Potenziale Geflüchtete mit in die Schweiz bringen. Statistiken des Staatssekretariats für Migration (SEM) belegen, dass rund 60 Prozent der Schutzsuchenden aus der Ukraine über einen Hochschulabschluss und mehr als 90 Prozent über einen Abschluss auf Sekundarstufe verfügen. Auch aus anderen Herkunftsländern befinden sich viele qualifizierte Geflüchtete in der Schweiz. Ihr Bildungsstand und Potenzial wird aber erst später, nach Zuweisung an einen Aufenthaltskanton, erfasst.

Sowohl der Zugang zu Tertiärbildung wie auch die Aufnahme einer ihrer Ausbildung entsprechenden Erwerbstätigkeit sind für hoch qualifizierte Personen mit ausländischen Diplomen unabhängig ihres Herkunftslandes oft mit Hindernissen verbunden. Nicht selten muss eine Dequalifizierung durch eine Anstellung unter den eigentlichen Fähigkeiten in Kauf genommen werden. In den letzten Jahren sind allerdings verschiedene Projekte entstanden, mit dem Ziel, Geflüchteten den Einstieg in eine Tertiärausbildung zu erleichtern oder gar erst zu ermöglichen.

Der Verband der Schweizer Studierendenschaften (VSS) unterstützt mit dem Projekt «Perspektiven Studium» Universitäten und Hochschulen bei der Schaffung und Umsetzung von Brücken- und Einstiegsangeboten für Geflüchtete. Aktuell bestehen schweizweit bereits über 30 Förderprojekte.

Zugang zu Hochschulen und Universitäten fördern

Die gezielte und individuelle Förderung basierend auf einer umfassenden Potenzialabklärung stellt einen Grundpfeiler der Integrationsagenda Schweiz (IAS) dar. In den strategischen Programmzielen ist verankert, dass vorläufig Aufgenommene und anerkannte Flüchtlinge mit entsprechendem Potenzial auf den Einstieg in eine Tertiärausbildung vorbereitet werden sollen.

Die Umsetzung ist aber mit zahlreichen Herausforderungen verbunden:

  • Sprachkenntnisse: Das Erlangen eines Sprachdiploms auf universitärer Stufe (C1/C2) benötigt Zeit und wird durch die fallführenden Stellen oft nicht finanziert. In vielen Fällen wird Sprachförderung lediglich bis zum Niveau B1 finanziert.
  • Anerkennung ausländischer Diplome und Leistungen: Die Anerkennung von im Ausland absolvierten Studienleistungen, Reifezeugnissen und Diplomen ist komplex und kostenintensiv. Alternative Gleichwertigkeits- oder Validierungsverfahren fehlen in vielen Bereichen.
  • Alterslimiten: Das in der IAS postulierte Prinzip «Bildung vor Arbeit» wird bis zum Alter von 25 Jahren meist konsequent umgesetzt, für ältere Personen wird hingegen oft eine Abwägung zwischen rascher Erwerbsintegration und Förderung einer länger dauernden Ausbildung vorgenommen.

Weitere Schwierigkeiten können die Finanzierung von vorbereitenden Massnahmen wie Eignungsprüfungen oder fehlende geografische Mobilität sein.

Die Schaffung und Finanzierung spezifischer Programme stellen deshalb ein zentrales Element für einen effektiven Zugang zu tertiären Bildungsangeboten dar. Die Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH) begrüsst die vielseitigen Anstrengungen in der Hochschullandschaft Schweiz, den Eintritt in eine tertiäre Ausbildung auch für Geflüchtete zu ermöglichen.

Finanzierung von Ausbildungs- und Lebenskosten

Nicht nur der Zugang muss geklärt werden, sondern auch die Finanzierung der Ausbildung und des Lebensunterhalts. Dabei kommt dem Stipendienwesen eine tragende Rolle zu. Während der Zugang zu Stipendien für anerkannte und vorläufig aufgenommene Flüchtlinge dank der Genfer Flüchtlingskonvention gewährleistet ist, existiert für vorläufig aufgenommene Ausländer*innen und Personen mit Schutzstatus S keine einheitliche Regelung. In vielen Kantonen haben sie kein oder nur bedingtes Anrecht auf Stipendien. Problematisch sind beispielsweise zu tiefe Alterslimiten, welche es spät eingereisten Personen verunmöglichen, ein Stipendium zu erhalten. Auch die Anerkennung von Erstausbildungen ist nicht einheitlich geregelt: so kann es sein, dass das ausländische Diplom einer geflüchteten Person in der Schweiz nicht anerkannt ist, gleichzeitig aber der Zugang zu einem Stipendium mit Verweis auf die abgeschlossene Erstausbildung verwehrt wird.

Positive Entwicklungen beim Zugang zu Stipendien

Dass der Zugang zu Stipendien und Ausbildungsbeiträgen dringend reformbedürftig ist, wurde erkannt: Im Februar 2024 nahm der Kanton Zürich eine Motion an, mit welcher die fünfjährige Wartefrist beim Zugang zu Stipendien für vorläufig aufgenommene Ausländer*innen abgeschafft werden soll. Weitere Vorstösse zu einer Liberalisierung sind in den Kantonen Basel-Land, Bern, Freiburg, Uri und Zug hängig.

Diese Vorstösse sind ein Schritt in die richtige Richtung. Der Zugang zu Ausbildungsbeiträgen und Stipendien soll für Geflüchtete schweizweit gewährleistet werden, um Rechtsungleichheiten zu reduzieren. Eine wichtige Rolle kann dabei das Stipendienkonkordat der Konferenz der eidgenössischen Erziehungsdirektor*innen (EDK) spielen. Das Konkordat strebt eine Harmonisierung an und legt Mindeststandards bezüglich Zugang und Ausgestaltung fest. Den Kantonen steht es dabei immer noch frei, ihre Richtlinien grosszügiger auszugestalten.

Wenn Stipendien gewährt werden, ist dies noch keine Garantie, dass die Ausbildung absolviert werden kann. Da Stipendien in der Regel nicht lebenskostendeckend sind, braucht es oft ergänzende Unterstützung durch die Sozialhilfe. Ein Commitment der Fachstellen ist nötig, um die Ausbildung der Klient*innen zu unterstützen, was dem teilweise vorherrschenden Credo der raschen Erwerbsintegration zuwiderläuft. Die möglichst schnelle Integration in den Arbeitsmarkt greift aber zu kurz: Können Geflüchtete ihr vorhandenes Bildungspotenzial vollumfänglich nutzen, ist dies sowohl für die Betroffenen wie auch für die Gesellschaft langfristig ein Gewinn.

Ausbildungen als Teillösung gegen Fachkräftemangel

Im kürzlich publizierten Bericht des Bundesrates zur Förderung des inländischen Arbeitskräftepotenzials wird unter anderem auf das nicht ausgeschöpfte Potenzial von Geflüchteten hingewiesen. Die SFH unterstützt diese Stossrichtung: Die spezifische Integrationsförderung sollte sich in jedem Fall verstärkt an den Potenzialen der Geflüchteten orientieren, unabhängig von Alter, Aufenthaltsstatus oder Dauer der Ausbildung. Der Zugang zu Tertiärausbildungen soll ermöglicht und unterstützt werden, sofern das Potenzial und das Interesse der Geflüchteten vorhanden sind. Damit dies möglich ist, braucht es eine Sensibilisierung der fallführenden Stellen, spezifische Förderprojekte an den Hochschulen und Universitäten und einen einheitlichen Zugang zu Ausbildungsbeiträgen und Stipendien.

Ebenso hat das Staatssekretariat für Migration (SEM) im Zusammenhang mit der Integration von Geflüchteten aus der Ukraine bereits angekündigt, die Anstrengungen zur Unterstützung Geflüchteter bei Diplomanerkennungen zu intensivieren – auch dies ein wichtiger Schritt, damit Geflüchtete ihr Potenzial in der Schweiz nutzen und so einen massgeblichen Teil zur Entlastung des Fachkräftemangels beisteuern können.

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