Pflegefamilien bieten geflüchteten Kindern Schutz und Sicherheit

22. März 2024

Die Schweiz hält ihre Verpflichtung, allen unbegleiteten Minderjährigen bedarfsgerechten Wohnraum zu garantieren, aktuell nicht ein. Kinder und Jugendliche sind in den Bundesasylzentren und in den kantonalen Unterkünften zunehmend unterbetreut und kaum getrennt von erwachsenen Asylsuchenden untergebracht. Ein frühzeitiger und begleitender Familienanschluss in Pflegefamilien nach Zuweisung in die Kantone wirkt sich stabilisierend und integrierend für sie und ihr Umfeld aus. Die Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH) plädiert dafür, dieses Potential besser auszuschöpfen und finanziell zu fördern.

Daniela Rohleder, Projektmitarbeiterin Pflegefamilien für unbegleitete minderjährige Geflüchtete, Soziologin

Bereits der SFH-Standpunkt vom Juni 2023 verwies auf die frappante Zunahme von Asylgesuchen unbegleiteter Minderjähriger. Inzwischen befinden sich in der Schweiz über 3200 geflüchtete Minderjährige, die getrennt von ihren Eltern oder anderen Sorgeberechtigten angekommen sind. Laut neuester Statistik des Staatssekretariats für Migration (SEM) für das Jahr 2023 beträgt ihr Anteil an allen Asylgesuchen über 10 Prozent.

Alle Kinder haben Rechte. In der Schweizer Bundesverfassung verleiht ihnen Artikel 11 einen «Anspruch auf besonderen Schutz ihrer Unversehrtheit und auf Förderung ihrer Entwicklung» sowie Rechte, die sie «im Rahmen ihrer Urteilsfähigkeit» ausüben. Übergeordnet stärkt die UN-Kinderrechtskonvention (KRK) die Rechte aller sich in der Schweiz aufhaltenden Minderjährigen, so auch die besonders vulnerable Gruppe der unbegleiteten minderjährigen Asylsuchenden (UMA). Dieses Übereinkommen wurde von der Schweiz 1997 ratifiziert.

Ein unvollständiges Puzzle mit Versorgungslücken

Stellen wir uns in einem Gedankenexperiment das Schweizer Asylwesen für unbegleitete Minderjährige als Puzzle vor, dessen Rahmung aus den 54 Artikeln der Kinderrechtskonvention bestünde. Bei genauem Hinschauen wird deutlich, dass das Puzzle unvollständig ist und einzelne Teile nicht in die kinderrechtliche Rahmung passen. Mit Blick auf die aktuelle Versorgungs- und Unterbringungssituation unbegleiteter Kinder etwa müssten zahlreiche Puzzleteile ausgetauscht oder feingeschliffen werden. Welche Puzzleteile weisen einen dringenden Reparaturbedarf auf?

Schon die ersten zwei Artikel der UN-Konvention halten fest: Als Kinder gelten alle Menschen, die das 18. Lebensjahr noch nicht erreicht haben. Ihnen muss ein diskriminierungsfreier Zugang zu ihren Rechten gewährt werden. Während unbegleitete Kinder unter 12 Jahren unmittelbar nach ihrer Ankunft in der Schweiz in einer Pflegefamilie untergebracht werden, erfolgt für Jugendliche die Verteilung in Kollektivunterkünfte. So entsteht eine Ungleichbehandlung im Zugang zu bedarfsgerechter Versorgung. Minderjährige gleich welchen Alters benötigen ein sicheres Zuhause.

Artikel 3 garantiert, das Kindeswohl bei allen Massnahmen in den Vordergrund zu rücken. In der Realität fehlt es in der Schweiz allerdings an einem spezifischen Verfahren zur Beurteilung des Kindeswohls und der Einbeziehung von Kindern in das Asylverfahren sowie in die Wahl ihrer Unterkunft.

Artikel 27 gewährt jedem Kind einen angemessenen Lebensstandard, der die körperliche, geistige und soziale Entwicklung fördert. Die Realität weist grosse kantonale Unterschiede hinsichtlich der Unterbringungsstandards auf.

Das in Artikel 31 festgeschriebene Kinderrecht auf Spiel, Freizeit und Erholung sowie auf Teilhabemöglichkeiten am kulturellen Leben wird durch die Unterbringung in grossen Kollektivstrukturen ebenfalls verletzt.

Artikel 39 verpflichtet den Staat zur Umsetzung geeigneter Massnahmen, um die physische und psychische Genesung von Kindern zu fördern. Es braucht ein Umfeld, welches für die individuelle Gesundheit und die Würde des Kindes förderlich ist. Auch dieses Puzzleteil klemmt. In der Realität wird der Grossteil geflüchteter Minderjähriger in Strukturen untergebracht, in denen es an Rückzugsmöglichkeiten, an individueller Förderung und an qualifizierten Fachkräften mangelt.

Die Reparatur des Puzzles

Alle erwähnten Puzzleteile beziehen sich unter anderem auf die Form der Unterbringung. Am Anfang einer Reparatur stehen demzufolge unsere Forderungen an ein kinderrechtskonformes Unterbringungssystem im Schweizer Asylwesen.

Um geflüchteten Kindern Schutz und positive Perspektiven zu ermöglichen, sind zudem Veränderungen der aktuellen Versorgungssituation nötig und möglich. Für die Umsetzung bedarf es den genauen Blick auf jedes einzelne Puzzlestück der Kinderrechtskonvention.

Weder Bundesasylzentren noch grosse Kollektivunterkünfte ermöglichen Kindern eine Entwicklung im Sinne der ihnen zustehenden Rechte. Das Ankommens- und Asylsystem für Minderjährige muss Ressourcen zur Verfügung stellen, die ein gesundes Aufwachsen ermöglichen.

Für junge Geflüchtete enden Belastungen nicht automatisch mit dem Ankommen in der Schweiz. Stattdessen nehmen diese häufig eine neue, oft unerwartete Form an. Die Minderjährigen sind im Asylprozess konfrontiert mit finanziellem und psychischem Druck, mit dem Stress der Unterbringung in Kollektivstrukturen, mit Diskriminierungs- und Ausschlusserfahrungen, mit Sprachbarrieren, mit Sorgen um Familienangehörige, mit der Verarbeitung von Erlebtem und mit Zukunftsängsten.

Um sich von der Flucht erholen und in einem noch unbekannten System Fuss fassen zu können, benötigen alle Kinder zunächst Ruhe, eine Person, der sie vertrauen können und eine umfassende psychosoziale Versorgung.

Pflegefamilien als sichere Orte für junge Geflüchtete

Pflegefamilien verfügen über grosses Potential, geflüchteten Kindern ein gesundes Aufwachsen zu ermöglichen.Fehlende Sprachkenntnisse verursachen Missverständnisse, Sprachlosigkeit und Rückzug. Ein durch Familienanschluss erleichterter Zugang zu Sprache verschafft jungen Geflüchteten Stimme, Gehör und Sichtbarkeit. Die Einbindung in klare Strukturen wirkt Isolation entgegen und fördert Selbstwirksamkeit.

Familiensysteme ermöglichen Anknüpfungspunkte für eine soziale und berufliche Perspektive. Die frühzeitige und gleichberechtigte Teilhabe der jungen Menschen am gesellschaftlichen Leben wirkt sich sowohl für die Ankommensgesellschaft als auch für die Minderjährigen positiv und nachhaltig aus. Nicht zuletzt werden Bund und Kantone bei der Unterbringung entlastet.  

Der Anschluss in Familiensysteme kann ein Wachstumsraum für alle Beteiligten sein, ein noch fehlendes Puzzlestück im Ankommenssystem für junge Geflüchtete. Für das Gelingen sind Schulungsformate für Fachkräfte und Familien ebenso wichtig, wie Austausch- und Empowermenträume für die jungen Menschen. Pflegefamilien erfordern verbindliche und professionelle Begleitung. Die SFH nimmt sich gemeinsam mit Fachorganisationen dieser Aufgabe an und fördert und entwickelt bedarfsgerechte Angebotsformate.

Es ist also möglich, schiefe Puzzleteile des Asylwesens kinderrechtskonform zu feilen.

Dabei fördert eine Medienberichterstattung, die auf Stereotypisierungen verzichtet und auf die Lebensbedingungen unbegleiteter Kinder im Asylwesen aufmerksam macht, Sensibilisierung und Solidarisierung der Zivilbevölkerung für die Bedarfe dieser Kinder.

Bedarfsgerechte Versorgungsstrukturen sind möglich – erforderlich ist die flächendeckende Finanzierung für kindergerechte Unterbringung und qualifiziertes Fachpersonal, um jungen Geflüchteten trotz belastender biographischer Erfahrungen ein Leben in Sicherheit und Würde zu gewähren.

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