Verpflichtend eingeführt werden soll für eine grosse Anzahl schutzsuchender Menschen ein Asylverfahren an den Aussengrenzen der EU. Wie die SFH in einem Positionspapier dargelegt hat, droht bei diesen Grenzverfahren die systematische Internierung von Schutzsuchenden in Massenhaftlagern während des gesamten Verfahrens von der Registrierung bis zur Rückführung – selbst von Familien und Kindern. Der EU-Rat nimmt damit Verstösse gegen das völkerrechtlich verbriefte Non-Refoulement-Prinzip, die UNO-Kinderrechtskonvention sowie den Abbau fundamentaler Schutz- und Verfahrensgarantien billigend in Kauf. Es besteht die grosse Gefahr, dass für die Aussengrenzstaaten ein neuer Anreiz für Push-Backs geschaffen wird, um möglichst wenig Grenzverfahren durchführen zu müssen. Ausserdem werden die Kriterien für «sichere» Drittstaaten abgeschwächt. In den Grenzverfahren können Asylgesuche schon als unzulässig abgewiesen werden, wenn eine Person einen Bezugspunkt zu diesem «sicheren» Drittstaat hat oder schon nur durch einen solchen geflohen ist. Der Kern des Dublin-Systems – die Zuständigkeit jenes Staates, in den eine asylsuchende Person zuerst eingereist ist - bleibt derweil weitgehend unangetastet. Durch die verpflichtende Einführung der Grenzverfahren wird der Druck auf Staaten wie Griechenland oder Italien damit noch einmal zunehmen. Die Antwort eines solidarischen Europas wäre deshalb ein wirkungsvolles Umverteilungssystem mit Umsiedlungen (engl. relocations) von Asylsuchenden aus den Grenzstaaten. Doch der Rats-Kompromiss verschafft den EU-Staaten die Möglichkeit, sich genau davon loszukaufen – zu einem Preis von 20'000 Euro pro schutzsuchendem Menschen. So können Mitgliedstaaten, die keine Umsiedlungen vornehmen wollen, stattdessen finanzielle Unterstützungen leisten, möglicherweise sogar durch die Finanzierung von Projekten und Aktivitäten, die ausserhalb der EU stattfinden und darauf abzielen, Menschen von der Einreise nach Europa abzuhalten.
Der 8. Juni markiert einen schwarzen Tag für die Menschenrechte in Europa. Europäische Regierungen aller politischen Couleurs haben dem Druck nachgegeben und sind zum Wohle eines wie auch immer aussehenden Kompromisses vor rechten und postfaschistischen Scharfmacher*innen eingeknickt. Weil der EU-Pakt noch vor dem nächsten Frühling verabschiedet werden soll, stehen nun rasch Verhandlungen zwischen EU-Rat und EU-Parlament an. Dabei muss das Parlament mit Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten dagegenhalten. Die SFH und ihre europäischen Partnerorganisationen werden diese Bemühungen unterstützen. Auch sämtliche politischen Akteur*innen in der Schweiz müssen nun aus Sicht der SFH ihren Einfluss auf die Co-Gesetzgeber der Union nutzen, damit Menschenrechte und Flüchtlingsschutz am Ende nicht für einen schlechten Deal geopfert werden.