Schutzsuchende Kinder: Die Schweiz ist in der Pflicht

Der 16-jährige Hussein hat eine sehr lange Reise hinter sich. Vor einigen Monaten musste er plötzlich sein Land verlassen und zahlreiche Länder durchqueren, mit teilweise längeren und erzwungenen Aufenthalten. Nun ist er in einem Schweizer Bundesasylzentrum angekommen und hat ein Asylgesuch eingereicht. Was hält die Zukunft für ihn bereit?

Lucia della Torre, Juristin

2022 stieg die Zahl unbegleiteter minderjähriger Asylsuchender (UMA) in der Schweiz auf 2450 Personen, während sie 2021 bei 989 und 2020 bei 535 lag. Die Gründe für diese Zunahme sind internationale Unruhen, veränderte Migrationsrouten sowie angepasste Visaregelungen in zahlreichen Transitländern. Eine weitere Statistik, könnte man denken.

Es sind vor allem Kinder

Allerdings sind es Kinder, zusätzlich unbegleitet, deren Zahl deutlich angestiegen ist und die in der Schweiz nach Schutz suchen. Das verändert unsere Wahrnehmung sofort. Von Kindern zu sprechen, ist dabei kein simpler rhetorischer Kniff, um gezielt Emotionen zu wecken: Das seit 1997 in der Schweiz geltende Übereinkommen über die Rechte des Kindes (CRC) gibt vor, dass jede Person, die das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, als Kind anzusehen ist. Ist ein Kind zudem von seinen beiden Elternteilen getrennt und nicht durch einen anderen Sorgeberechtigten betreut, wird es als unbegleitet bzw. allein betrachtet.

Das CRC sieht vor, dass Kinder, jederzeit und unter allen Umständen, selbstständige Rechtssubjekte sind und die Umsetzung ihrer Rechte nicht auf dem guten Willen von Erwachsenen beruhen darf. Kinder haben insbesondere das Recht, eine Schule zu besuchen und generell auf Zugang zu Bildung. Sie haben auch Anspruch auf Ruhe und Freizeit sowie das Recht, sich spielerisch betätigen zu können oder auf altersgemässe, aktive Erholung. Diese Rechte gelten für alle Kinder, auch für schutzsuchende. Letztere sind dabei möglicherweise verletzlicher als die meisten Schweizer Kinder.

Zudem haben unbegleitete Kinder bis zu ihrer Volljährigkeit Anrecht auf eine Person, welche sie begleitet, unterstützt und vertritt. Sie haben zudem das Recht, angehört zu werden, und ihrer Meinung muss von den zuständigen Erwachsenen gebührend Rechnung getragen werden. Das übergeordnete Kindesinteresse und das Kindeswohl sollen dabei stets an erster Stelle stehen.

Das Alter ist entscheidend

Kommen wir auf Hussein zurück: Er ist endlich in der Schweiz angekommen und in einem Bundesasylzentrum untergebracht. Was wird ausschlaggebend sein für die nächsten Schritte in seinem Asylverfahren und für seine Zukunft?

Sein Alter wird eine wichtige Rolle spielen. Sein Asylverfahren wird vom Entscheid des Staatssekretariats für Migration (SEM) abhängen, das über seinen Schutzantrag entscheidet und dabei Husseins Alter und die Frage berücksichtigt, ob er, wie von ihm angegeben, als Kind angesehen wird. In den Bundesasylzentren haben nur Kinder Anspruch auf zusätzliche Unterstützungsmassnahmen wie die Anwesenheit von Pädagogen, auf Schulzugang oder die Beteiligung an Freizeitaktivitäten.

Hat das SEM Zweifel am tatsächlichen Alter der Person, muss sich diese einer Altersschätzung unterziehen. Das entsprechende Verfahren (Scans, Röntgenaufnahmen, körperliche Untersuchungen) stellt eine Verletzung der Intim- und Privatsphäre der betroffenen Person dar. Zudem ist die Zuverlässigkeit der Verfahren umstritten. 2020 und 2021 war die Zahl der Altersschätzungen unglaublich hoch. Laut Statistiken des SEM musste über die Hälfte der schutzsuchenden Personen, die angaben, minderjährig zu sein, dies über eine Altersschätzung nachweisen. Das bedeutet, dass die Behörden den Personen, die angeben, Kind zu sein, in über 50 Prozent der Fälle keinen Glauben schenken. Aus denselben Statistiken, die unter anderem im AIDA-Bericht veröffentlicht wurden, geht hervor, dass sich die meisten Personen, deren Alter evaluiert wurde, tatsächlich als Kinder erwiesen.

Zu beachten ist ausserdem, dass die häufige Durchführung medizinischer Abklärungen Zeit- und Kostenaufwand bedeutet. Dies widerspricht insbesondere den internationalen Grundsätzen, wonach rechtsmedizinische Abklärungen eine Ausnahme und ein letztes Mittel bilden und im Zweifelsfall das Prinzip in dubio pro minore gelten soll.

Eine angemessene Betreuung für alle Kinder

In den letzten Monaten des Jahres 2022 wurden die Bundesasylzentren stark beansprucht, insbesondere aufgrund der starken Zunahme Schutzsuchender. In diesem Zusammenhang wurden als selbstständig erachtete, unbegleitete minderjährige Asylsuchende ab 16 Jahren (SUMA) vor dem Beginn ihres Asylverfahrens für einen mehr oder weniger langen Zeitraum in andere Zentren verlegt. Entsprechend schwierig war es, die tägliche Betreuung durch ausgebildete Personen sicherzustellen, die sich um sie kümmern, sie altersgemäss beschäftigen und ihre Entwicklung und Integration fördern.

Die Kategorie SUMA wird inzwischen nicht mehr angewendet. Dies ist erfreulich. Diese Kategorie existiert im internationalen Recht gar nicht. Ausserdem schwächt  sie die Rechte von Kindern im Asylverfahren. Zudem sind die Verfahren, nach denen die Kinder als mehr oder weniger selbstständig eingeschätzt werden, absolut intransparent. Die Rechtsvertretenden der Kinder können diese Einschätzungen weder beurteilen noch analysieren.

Im Fall von Hussein wurden weder sein Alter noch seine Schutzbedürftigkeit in Frage gestellt, weshalb er in einem Bundesasylzentrum mit Verfahrensfunktion untergebracht blieb und nicht in ein anderes Zentrum mit eingeschränkter Betreuung verlegt wurde. Wie oben erwähnt, waren diese Zentren allerdings stark überbelegt; es fehlte an Ressourcen und Personal. Dies hatte deshalb letztlich negative Folgen auch für die asylsuchenden Kinder, welche in den Bundeszentren bleiben konnten.

Aus dem kürzlich veröffentlichten Bericht der Nationalen Kommission zur Verhütung von Folter (NKVF) (vollständiger Bericht in deutscher Sprache) geht hervor, dass in einigen Fällen ein*e einzige*r Erzieher*in aufgrund fehlender Mittel mehr als 70 Kinder betreuen musste. Mit einem solchen Betreuungsschlüssel lässt sich in keiner Weise sicherstellen, dass die Kinder von den ihnen gemäss CRC zustehenden Rechten vollumfänglich profitieren können. 

Die Schweiz muss sich entscheiden

Die künftige Ausrichtung des Schweizerischen Asylsystems, insbesondere bezüglich der Situation unbegleiteter Kindern, wird die Zukunft von Hussein stark beeinflussen. Die in den Bundesasylzentren verbrachte Zeit darf nicht zu einer unbeständigen oder sogar verlorenen Zeit werden, die zu neuen Verletzlichkeiten und Traumata bei Kindern führt, die grösstenteils bereits durch ihre Vergangenheit und Flucht gezeichnet sind. Das Asylverfahren muss die Rechte der Kinder berücksichtigen und ihnen die Beteiligung an den sie betreffenden Entscheidungen ermöglichen, ihr Recht auf Anhörung respektieren und das Kindeswohl an erster Stelle setzen. Es müssen mehr Mittel investiert werden, damit ausgebildetes Personal für die Betreuung der schutzsuchenden Kinder zur Verfügung steht. Auch sollten beständige Netzwerke, Verfahren und Austauschmöglichkeiten geschaffen werden, statt nur im Notfall zu agieren und dann noch zu improvisieren. Es ist wichtig, Unterbringungslösungen anzubieten, die die frühzeitige Integration von Kindern in die Gesellschaft begünstigen. Das Modell der privaten Unterbringung in Gastfamilien, das die Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH) fest im Schweizerischen Asylsystem etablieren möchte, zielt genau darauf ab. Projekte, die zum Ziel haben, das Bildungsangebot für Kinder, die sich noch in den Bundesasylzentren befinden, zu verbessern und zu erweitern, können ebenfalls einen wichtigen Beitrag leisten.

Nur mit solchen Lösungen können Hussein und andere Kinder zuversichtlich und hoffnungsvoll in die Zukunft blicken.

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