Sozialhilfeausgaben: Erwerbsintegration lässt sich nicht kurzfristig erzwingen

20. September 2024

Um die Sozialhilfeausgaben zu senken, will der Bundesrat die bisherige Integrationspolitik umkrempeln und die Integration von Geflüchteten in den Arbeitsmarkt innert drei Jahren mit Negativanreizen für Kantone und Betroffene erzwingen. Die Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH) lehnt diesen Vorschlag ab: Die vorgesehenen Massnahmen sind aus ihrer Sicht untauglich bis kontraproduktiv und die Zielvorgaben unrealistisch. Stattdessen soll-ten die Instrumente der Integrationsagenda Schweiz gezielt gestärkt und genutzt werden, zumal diese erste Wirkung zeigen.

Mit seinen heute verabschiedeten Eckwerten des Entlastungspakets für den Bundeshaushalt nimmt der Bundesrat auch die Integrationspolitik ins Visier: Die Sozialhilfeausgaben für anerkannte Flüchtlinge, vorläufig Aufgenommene und Schutzbedürfte sollen gesenkt werden, indem deren Abgeltung an die Kantone per Globalpauschale nur noch während vier Jahren entrichtet werden soll statt wie bisher während fünf bzw. sieben Jahren. Damit die Betroffenen schneller erwerbstätig und Sozialhilfeunabhängig werden, soll zugleich die Integrationspolitik neu auf das prioritäre Ziel einer rascheren Erwerbsintegration fokussiert werden: Künftig sollen die Betroffenen schon nach drei Jahren einen Job haben oder sich in einer Berufsausbildung befinden.

Die SFH hält die vorgeschlagenen Massnahmen für untauglich und lehnt sie insbesondere aus folgenden Gründen ab:

  • Bisherige Integrationspolitik wird auf den Kopf gestellt: Bund, Kantone, Gemeinden und Städte haben sich in einem langen Prozess auf eine gemeinsame Integrationsstrategie geeinigt, die mit der Integrationsagenda Schweiz (IAS) auf ganzheitliche Wirkungsziele zur nachhaltigen Integration setzt und seit 2019 in Kraft ist. Die vorgeschlagene Fokussierung auf die Erwerbsintegration steht quer dazu und postuliert einen Paradigmenwechsel, der die Integrationspolitik nach nur fünf Jahren wieder auf den Kopf stellt – und das ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, zu dem die Strukturen aufgebaut sind und sich seit der Einführung der IAS ein positiver Trend zur rascheren und nachhaltigen Erwerbstätigkeit zeigt.
     
  • Zielvorgaben sind unrealistisch: Punkto Arbeitsmarktintegration sind die Zielvorgaben der IAS bislang, dass die Hälfte aller erwachsenen FL/VA sieben Jahre nach der Einreise nachhaltig in den ersten Arbeitsmarkt integriert sind und zwei Drittel aller der Unter-25Jährigen sich fünf Jahre nach der Einreise in einer postobligatorischen Ausbildung befinden. Diese Vorgaben werden mit der erst seit 2019 umgesetzten IAS voraussichtlich knapp erreicht. Den Kantonen und den Betroffenen dafür nur noch drei Jahre Zeit zu ge-ben, ist angesichts dessen völlig unrealistisch. Allein der Erwerb hinreichender Sprachkenntnisse kann Jahre dauern aufgrund der hohen Anforderungen, die Arbeitgebende da-ran stellen. Hinzu kommt, dass auf absehbare Zeit die erforderlichen Fachkräfte für die forcierte Erwerbsintegration fehlen, wie sich aktuell schon bei der Arbeitsintegration der Geflüchteten aus der Ukraine (Status S) zeigt.
     
  • Ablösung von Sozialhilfe nicht garantiert. Aus Sicht der SFH besteht mit den drastischen Zielvorgaben das Risiko, dass Geflüchtete geringere Sprachkenntnisse erwerben können, weniger qualifizierende Bildungsmassnahmen erhalten und Anstellungen vermehrt nur im Niedriglohnsektor oder in der Teilzeitarbeit aufnehmen müssen. Das ist nicht nachhaltig: Die Vorstellung, dass Erwerbstätigkeit automatisch zur Ablösung von Sozialhilfe führt, ist ein Trugschluss. Denn Geflüchteten, die in niedrig qualifizierten Stellen oder Teilzeit arbeiten, reicht das Geld oft nicht zum Leben. Sie sind weiterhin auf Sozialhilfe angewiesen.
     
  • Negativanreize verfehlen Wirkung - Integration kann nicht erzwungen werden: Die verkürzte Abgeltungspflicht (Globalpauschale) soll zum einen den Anreiz der Kantone für eine rasche Integration der Betroffenen in den Arbeitsmarkt erhöhen. Zum andern soll der Anreiz für die Betroffenen zur Erwerbstätigkeit und Verminderung der Sozialhilfeanhängigkeit dadurch erhöht werden, dass ihnen andernfalls aufenthaltsrechtliche Konsequenzen drohen. Das wäre besonders prekär für vulnerable Personen wie etwa traumatisierte Personen, Kranke oder alleinerziehenden Frauen mit kleinen Kindern, die keiner Arbeit nachgehen können. Negativanreize sind zudem erfahrungsgemäss kaum zielführend bis kontraproduktiv, sowohl in der Integrationsförderung als auch in der Sozialhilfe. Etliche Studie weisen darauf hin, dass vielmehr die gezielte individuelle Unterstützung besonders wirksam ist. Dieser Erkenntnis trägt die IAS heute denn auch Rechnung mit der Potenzialabklärung und der durchgehenden Fallführung, an der es aus Sicht der SFH zwingend festzuhalten gilt; zumal sich erste positive Auswirkungen und Entwicklungen zeigen.
     

Faktisch drohen die Folgen der angekündigten Sparmassnahme damit aus Sicht der SFH, die bisherigen Anstrengungen zu untergraben sowie Leistungskürzungen auf Kosten der Geflüchteten und der nachhaltigen Integration zu generieren. Sie offenbart den Rückfall in ein Denken und eine Integrationsvorstellung, die mit der Einigung aller politischen Ebenen auf die IAS überwunden schienen.

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