«Niemand ist zum Vergnügen hier»

21. Mai 2024

Cihan Dilber arbeitet seit dem 01. November 2023 als Mitarbeiter Betreuung im Fachbereich Grundversorgung in Basel im Bundesasylzentrum (BAZ) Nordwestschweiz. Er ist bei der ORS Service AG angestellt, die im Auftrag des Staatssekretariats für Migration (SEM) für die Betreuung im BAZ zuständig ist. Cihan Dilber ist Mitglied des Flüchtlingsparlaments und arbeitet zudem im Bildungsteam der Schweizerischen Flüchtlingshilfe (SFH) mit. Die Redaktion des «Fluchtpunkts / Planète Exil» hat ihn im März 2024 an seinem Arbeitsort im BAZ Basel besucht.

Interview und Fotografie: Barbara Graf Mousa, Redaktorin SFH

Cihan Dilber, wie sieht der Arbeitstag eines ORS-Betreuers im Bundesasylzentrum aus?

Die Arbeitstage sind sehr verschieden und wir arbeiten in Früh- und Spätschichten jeweils zu dritt im Team. Man weiss nie, was kommt. Das macht die Arbeit auch so abwechslungsreich und mein Aufgabenfeld ist vielfältig. Ich bin für die Grundversorgung und die Gestaltung des Alltags der Gesuchstellenden da, die hier auf ihr Verfahren warten. Wir sind politisch und religiös neutral und nehmen auch sonst keinen Einfluss auf das Verfahren. Dafür ist einzig das SEM zuständig.

Wie muss man sich die Alltagsgestaltung in einem BAZ vorstellen?

Die Asylsuchenden müssen im BAZ eine Tagesstruktur mit Regeln einhalten und ihre Termine wahrnehmen. Ich unterstütze sie dabei: Mal bin ich auf den Fluren oder in den Zimmern unterwegs, beantworte Fragen, helfe bei der Reinigung oder zeige Neuankömmlingen die Unterkunft. Mal bin ich im Speisesaal eingeteilt und schaue, dass jeder sein Essen bekommt und es keine Streitereien gibt. Mal bin ich für den «Shop» mit Hygieneartikeln und kostenlosem Bücher- oder Spielverleih zuständig. Mal fahre ich jemanden zu einem Arzttermin. Jeder der Bewohnenden hat unterschiedliche Bedürfnisse, denen wir möglichst gerecht werden möchten.

Ist das auch bei hoher Belegung möglich?

Natürlich ist es herausfordernd, wenn es an einem Tag sehr viele Neueintritte gibt und das Zentrum gut ausgelastet ist. Man muss flexibel bleiben. Wichtig ist, dass wir jedem Bewohnenden mit Respekt und auf Augenhöhe begegnen. Grundsätzlich sind wir ORS-Mitarbeitende Brückenbauer zwischen Kulturen, Erwartungen und den in der Schweiz geltenden Regeln.

Aus welcher Motivation arbeiten Sie in einem Bundesasylzentrum?

Von März bis Mai 2019, während meines Aufenthalts im BAZ Boudry, habe ich freiwillig im BAZ-Alltag mitgeholfen. Dort habe ich ein wenig von der Betreuungsarbeit mitbekommen und fand das sehr interessant. Natürlich wollte ich am liebsten in der Rechtsberatung arbeiten. Das war in meiner türkischen Heimat mein Beruf. Aber in der Schweiz kann ich nicht als Anwalt arbeiten. Darum habe ich mich dann schnell dazu entschieden, mit und für Menschen im Asylbereich zu arbeiten. Inzwischen ist es meine Passion geworden, und ich sehe, dass mir meine eigene Fluchterfahrung und mein beruflicher Hintergrund sehr gut dabei helfen. Ich kenne die Probleme von Menschen, die wie ich aus politischen Gründen aus ihrem Heimatland geflüchtet sind. Es ist mir eine Freude, mich in sie hineinzuversetzen und über ihre Bedürfnisse nachzudenken und zu helfen. Das gibt mir ein Gefühl der Zufriedenheit.

Gibt es Momente oder Situationen, wo Sie bei Ihrer Arbeit im BAZ persönlich an Ihre Grenzen kommen?

Natürlich kenne ich das. Im BAZ haben wir es mit Menschen aus sehr unterschiedlichen Herkunftsländern, Kulturen und mit verschiedenem beruflichem Bildungshintergrund zu tun. Jeder hat andere Bedürfnisse und reagiert unterschiedlich. Niemand der Bewohnenden ist zum Vergnügen oder für eine touristische Reise hier. Der Umgang mit teils traumatisierten Personen fordert heraus. In solchen Situationen müssen wir ruhig und neutral bleiben, ohne die Situation zu personalisieren. 90 Prozent der Probleme entstehen durch Missverständnisse. Für einige ist es belastend, dass es in einem BAZ kaum eine Privatsphäre gibt. Die Menschen leben hier unfreiwillig sehr nahe zusammen, da kann es zu Reibereien kommen.

Was tun Sie in solchen Momenten?

Ich versuche aufzuklären und die Anliegen der Bewohnenden lösungs- und nicht konfliktorientiert zu behandeln. Auch wenn wir als Betreuer oft sehr viel gleichzeitig zu tun haben, versuche ich mir Zeit zu nehmen, zuzuhören, zu schlichten und auch meine ORS-Kollegen zu unterstützen.

Können Sie ein Beispiel erzählen?

Einmal ging es um einen Handydiebstahl und es tat sich eine Gruppe zusammen, die plante, in der Nacht den vermeintlichen Dieb selbst zu bestrafen. Das bekam ich mit und riet ihnen dringend von solcher Selbstjustiz ab. Ich glaube, das hat gut geklappt, weil ich ruhig erklären konnte, wie der Konflikt und die Bestrafung nach den Regeln hier funktioniert.

Spricht hier der ehemalige Staatsanwalt aus Ihnen?

Ja, ich habe in meinem Land sieben Jahre lang in dieser Position gearbeitet. Ich denke, das ist definitiv hilfreich, diese Erfahrungen in die Betreuungsarbeit im BAZ einzubringen. Aber ich arbeite hier in meiner Rolle als Betreuer, nicht als Rechtsvertreter. Dafür sind andere zuständig.

Werden Sie fĂĽr ihre Aufgaben im BAZ weitergebildet?

Meine Arbeitgeberin ORS  bietet uns Kurse rund um die professionelle Betreuung, die Konfliktprävention und zum Thema Nähe und Distanz an. Einige davon habe ich schon besucht, an anderen nehme demnächst teil.

Ihre Muttersprache ist Türkisch – kommt Ihnen diese Sprachkompetenz im BAZ auch zugute?

Natürlich ist es gut, wenn man in derselben Sprache kommunizieren kann, wie die Gesuchstellenden. Manchmal ist es wirklich wertvoll, zum Beispiel einen Witz in ihrer eigenen Sprache zu erzählen oder einfach zuzuhören. Oft beruhigt es sie, wenn sie jemand in ihrer eigenen Sprache sprechen hören. Oder wenn sie merken, dass ich den gleichen Prozess durchlaufen habe. Dann sehen sie mich als Beispiel und es gibt ihnen Hoffnung für die Zukunft. Aber es gibt ja nicht nur türkisch sprechende Asylsuchende und ich bin für alle da und behandle alle gleich. Mir ist wichtig, dass sowohl die Bewohnenden wie auch meine ORS-Kolleginnen und -Kollegen und das SEM sich auf mich verlassen können. Übrigens arbeiten bei der ORS aktuell Menschen aus knapp 100 verschiedenen Herkunftsländern, es sind also viele unterschiedliche Sprachkenntnisse vertreten.

Was gefällt Ihnen an Ihrer Arbeit am besten?

Ich finde es schön, dass ich Menschen, die sich in einer besonderen Lebenssituation befinden, Unterstützung anbieten kann. Es interessiert mich nicht, warum sie im BAZ sind. Sie sind jetzt einfach da. Ich versuche, ihnen diesen «Aufenthalt auf Zeit» so angenehm wie möglich zu gestalten. Ich begegne den Menschen einfühlsam, höre ihnen zu, versuche zu verstehen und schenke ihnen ab und zu ein freundliches Lächeln.

Was macht Ihnen MĂĽhe und wo sehen Sie Verbesserungspotential in den BAZ?

Wir müssen in der Lage sein, schnell zu reagieren, wenn plötzlich viele neue Asylsuchende kommen. Wir sollten meiner Ansicht nach die Planung der Belegung verbessern, denn je höher die Auslastung ist, desto stärker wird die Privatsphäre eingeschränkt. Ich finde, wir machen hier eine wertvolle und gleichzeitig schwierige Arbeit. Deshalb wäre es schön und wichtig, dass Menschen, die sich in der Betreuung und Begleitung von Asylsuchenden einsetzen von der breiten Öffentlichkeit etwas mehr Wertschätzung bekommen würden. Wer keinen Einblick in den BAZ-Alltag hat, ist sich manchmal gar nicht bewusst, dass wir von Asylsuchenden manchmal auch angeschrien, angepöbelt und gelegentlich sogar angegriffen werden. In der Öffentlichkeit, vor allem in den Medien werden die Betreuungsdienstleistungen schnell kritisiert, obwohl es eigentlich um das Asylsystem geht. Dafür tragen wir hier in der Betreuung aber nicht die Verantwortung.

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