Expertenbericht bestätigt: Schweiz muss geflüchtete weibliche Gewaltopfer besser schützen

15. November 2022

Die GREVIO (Expertengruppe zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt) bestätigt in ihrem ersten Bericht zur Umsetzung der Istanbul-Konvention die von der Schweizerischen Flüchtlingshilfe (SFH) und anderen nichtstaatlichen Organisationen in ihrem Schattenbericht geäusserte Kritik: Die Schweiz muss weitere Anstrengungen unternehmen, um geflüchteten weiblichen Opfern von Gewalt den notwendigen Schutz und die notwendige Unterstützung zu gewähren.

Am 1. April 2018 ist das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (Istanbul-Konvention) in der Schweiz in Kraft getreten. Vier Jahre später hat die zuständige Expertengruppe des Europarats GREVIO ihren ersten Bericht über die Umsetzung der Konvention in der Schweiz veröffentlicht. Dieser befasst sich unter anderem mit den Bereichen Migration und Asyl. So verlangt Artikel 60 der Istanbul-Konvention, dass Asylverfahren geschlechtsspezifische Aspekte mitberücksichtigen müssen.

In ihrem Bericht begrüsst die GREVIO zwar die positiven Entwicklungen in der Schweiz seit 2018, weist aber auch auf bestimmte Lücken hin. Damit bestätigt sie die Kritik, welche die Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH) zusammen mit anderen nichtstaatlichen Organisationen in ihrem Schattenbericht geäussert haben (siehe insbesondere ab Seite 213).

Mangelnde Sensibilisierung für geschlechtsspezifische Gewalt

Laut GREVIO sind Fortbildung und Sensibilisierung der im Asylbereich tätigen Personen bezüglich des Themas Gewalt gegen Frauen unzureichend. Das Überwachungsgremium der Istanbul-Konvention weist auch auf eine andere wichtige Lücke hin: Das Fehlen eines Screening-Verfahrens zur Erkennung der Schutzbedürftigkeit von Frauen, die Opfer von geschlechtsspezifischer Gewalt geworden sind. Das Fehlen eines solchen Verfahrens begrenzt die Möglichkeiten, den betroffenen Frauen schnell Schutz und angemessene Unterstützung zu ermöglichen. GREVIO verweist nachdrücklich darauf, dass Frauen und Mädchen ermöglicht werden sollte, alle relevanten Gründe für ihr Asylgesuch vorzubringen.

Die von der GREVIO geäusserten Kritikpunkte waren bereits im oben erwähnten Schattenbericht aufgegriffen worden. Die Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH) hält es für wichtig, dass alle Mitarbeitenden im Bereich Betreuung sowie alle Sicherheits- und Gesundheitsfachkräfte von Expertinnen und Experten für geschlechtsspezifische Gewalt und Traumata sensibilisiert und geschult werden.

Was die Unterbringung anbelangt, so fordert die GREVIO die Verabschiedung von geschlechtsspezifischen Leitlinien für alle Empfangszentren. Gemäss GREVIO verfügen manche dieser Zentren nicht über abschliessbare Sanitäreinrichtungen oder über Frauen, Kindern oder Familien vorbehaltene Gemeinschaftsräume. Für die Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH) ist wesentlich, dass Intimität und Schutzbedürftigkeit der in den Bundesasylzentren untergebrachten Frauen respektiert werden. Sie fordert deshalb die Unterbringung traumatisierter Frauen und LGBTQI-Personen in Spezialeinrichtungen oder in Wohnungen.

Bessere Einschätzung der effektiven Schutzfähigkeit der Herkunftsländer

Besondere Probleme zeigen sich, wenn es um die Behandlung von Gewaltvorwürfen durch Frauen aus sogenannten sicheren Herkunftsländern geht. Solche werden oft mit der Begründung zurückgewiesen, das Herkunftsland sei selbst in der Lage, das Opfer vor den genannten Gewalttaten zu schützen, vor allem dann, wenn dieses die Istanbul-Konvention ratifiziert hat. Allerdings kann diese Schutzfähigkeit nicht immer konkret nachgewiesen werden, oder es wird in unvollständiger Art und Weise auf die bestehenden GREVIO-Beurteilungsberichte Bezug genommen. Die Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH) ist der Ansicht, dass die effektive Schutzwilligkeit und -fähigkeit des Herkunftslandes oder Drittstaates detaillierter geprüft werden müssen. Auch die GREVIO greift diesen Punkt in ihrem Bericht auf und appelliert an die Schweizer Behörden, Massnahmen zu treffen, um die effektive Schutzfähigkeit der Herkunftsländer besser beurteilen zu können und empfiehlt der Schweiz, konsequent ihre bestehenden Beurteilungsberichte heranzuziehen.

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