Asylsuchenden in Italien drohen Menschenrechtsverletzungen

Bundesverwaltungsgericht ignoriert prekäre Lage für Asylsuchende in Italien

22. Oktober 2021

Das Bundesverwaltungsgericht (BVGer) stützt einen Entscheid des Staatssekretariats für Migration (SEM) zur Abschiebung einer alleinstehenden Mutter mit Kleinkind nach Italien. Die Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH) kritisiert dieses neue Referenzurteil. Es widerspricht den Erkenntnissen und Recherchen der SFH, welche die nach wie vor prekären Bedingungen für Asylsuchende und die Mängel im italienischen Unterbringungssystem belegen. Die SFH hält daher an ihrer Empfehlung an die Behörden fest, von Überstellungen nach Italien abzusehen.

Das BVGer hat 2015 die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR, Urteil Tarakhel) zur Überstellung von Familien nach Italien übernommen und festgelegt, dass dazu behördliche Garantien einer kindgerechten und die Einheit der Familie wahrenden Unterbringung einzuholen seien. Ende 2019 weitete das Gericht diese Vorgaben auf schwer erkrankte Asylsuchende aus.

Das Gericht anerkannte damit, was die SFH längst anmahnt: Das ohnehin bereits stark fragmentierte und chronisch überlastete italienische Asyl- und Aufnahmesystem wurde durch die Gesetzesverschärfungen und massiven Einsparungen unter dem früheren Innenminister Matteo Salvini (namentlich das sog. Salvini-Dekret) weiter geschwächt – insbesondere die bedürfnisgerechte Unterbringung und Betreuung von besonders verletzlichen Asylsuchenden ist nicht gewährleistet. 

Entscheid nicht nachvollziehbar

In seinem neuen Referenzurteil zu Dublin-Überstellungen von Familien mit kleinen Kindern nach Italien schraubt das Gericht nun die Vorgaben für genügende Garantien der italienischen Behörden hinunter. Ohne sich mit der aktuellen Lage für Asylsuchende in Italien und den tatsächlichen Bedingungen für die Betroffenen vor Ort auseinanderzusetzen, begründet das Gericht diesen weitreichenden Schritt einzig damit, dass die Bestimmungen des Salvini-Dekrets «weitgehend rückgängig gemacht» worden seien.

Die SFH beobachtet und dokumentiert die Situation in Italien seit Jahren kontinuierlich. Sie legte die drastischen Auswirkungen des Salvini-Dekrets auf das Aufnahmesystem für Asylsuchende 2020 in einem Bericht detailliert dar. In einem weiteren Bericht vom Sommer 2021 zeigte sie auf, dass die Aufhebung einiger Restriktionen aus der Ära Salvini bislang vorwiegend auf dem Papier existiert.

Nach wie vor gravierende Mängel

Die Verbesserungen, auf die sich das BVGer beruft, werden von diesem weder weiter ausgeführt noch deren Umsetzung in der Praxis hinterfragt. Nach Einschätzung der SFH weist das italienische Asyl- und Aufnahmesystem weiterhin gravierende Mängel auf. Die Bedingungen in den Erstaufnahmezentren haben sich nicht verbessert, es existiert keine zentrale Übersicht, die Unterstützung in den Zentren ist minimal und für die Unterbringung von verletzlichen Personen nicht geeignet. Zudem hat sich mit der Covid-19-Pandemie, von der Italien stark getroffen wurde, die Situation zusätzlich verschärft.

Das BVGer-Urteil ignoriert die tatsächlich herrschenden Zustände in Italien und die aktuellen Recherchen der SFH sowie ihre langjährige Expertise zu Italien.  Die SFH rät seit langem von Überstellungen nach Italien ab und fordert die Behörden auf, auf Asylgesuche von Personen selbst einzutreten, die bei einer Rücküberstellung nach Italien einer Situation extremer materieller Not ausgesetzt wären. Daran hält die SFH weiterhin fest.

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