Solidarität ist nicht selbstverständlich

09. Juni 2022

Die Solidarität mit den Vertriebenen aus der Ukraine und die gleichzeitige Ungleichbehandlung von Geflüchteten stehen im Zentrum der diesjährigen Kampagne der SFH zum Flüchtlingstag. Die Erfahrungen der letzten Wochen zeigen dabei: Es braucht die Unterstützung des Staates, damit die aktuelle Willkommenskultur erhalten bleibt. Dann kann diese die Basis bilden für eine grundsätzlich neue Haltung gegenüber Geflüchteten.

Oliver Lüthi, Abteilungsleiter Kommunikation

Der 24. Februar 2022, Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine, bedeutete einen Wendepunkt: Nicht nur für die Ukraine, sondern auch für die Flüchtlingspolitik der Schweiz. Eine selten dagewesene Solidarität prägt seither den Umgang mit den Geflüchteten aus der Ukraine. Diese enorme Hilfsbereitschaft der Bevölkerung ist Thema der diesjährigen Kampagne der Schweizerischen Flüchtlingshilfe (SFH) zum Flüchtlingstag. Zu den solidarischen Menschen gehören unter anderen Pit und Brigitte Meyer aus St. Blaise im Kanton Neuenburg. Das Ehepaar Meyer hat eine Mutter und ihre beiden Töchter aus der Ukraine aufgenommen. Die SFH hat die Gastfamilie in den vergangenen Wochen besucht und ihre Geschichte aufgezeichnet. Die Familie Meyer ist dabei nur ein Beispiel unter Tausenden, wie offen und flexibel sich viele Menschen in der aktuellen Situation verhalten. Wie sie bereit sind, von einem Moment auf den anderen ihr bisheriges Leben ein Stück weit auf den Kopf zu stellen, ihr Haus oder ihre Wohnung mit fremden Menschen zu teilen, diese im Alltag zu unterstützen, für sie einkaufen zu gehen, ihre Kinder zur Schule zu bringen. Rund 25'000 Geflüchtete aus der Ukraine sind inzwischen in der Schweiz privat untergebracht. Die Solidarität erschöpft sich aber nicht mit der privaten Unterbringung von Geflüchteten. In einzelnen Gemeinden sind ganze Freiwilligenstrukturen entstanden. Engagierte geben gratis Essen an Geflüchtete ab, organisieren Kleiderbörsen, stellen Fahrdienste auf die Beine oder erteilen kostenlosen Deutschunterricht. Andere wiederum betreuen ukrainische Kinder, während die Eltern arbeiten. Das Zusammenleben mit den Geflüchteten ist dabei nicht nur konfliktfrei. Abweichende Erwartungshaltungen oder kulturelle Unterschiede stellen hohe Anforderungen, gerade an das Leben in Gastfamilien. Die ukrainischen Geflüchteten sind durch den erlebten Krieg und die Flucht psychisch teilweise enorm belastet, viele mussten ihre Familienangehörigen in der Ukraine zurücklassen. Umso wichtiger ist es, ein stabiles Umfeld zu schaffen, das den Geflüchteten erlaubt, sich zu erholen und geregelte Alltagsstrukturen aufzubauen. Vor diesem Hintergrund erbringen gerade die Gastfamilien eine enorme Integrationsleistung und tragen ganz wesentlich zur erfolgreichen Bewältigung der grössten Flüchtlingsbewegung in der Schweiz seit dem zweiten Weltkrieg bei.

Es braucht funktionierende staatliche Strukturen

Dass die aktuelle Krise so erfolgreich bewältigt wird, ist aber auch das Verdienst der Politik und Folge der vorbildlichen Zusammenarbeit von Bund, Kantonen, Gemeinden und Hilfswerken. Bereits am 11. März hat der Bundesrat erstmalig den Schutzstatus S aktiviert, welcher den Geflüchteten aus der Ukraine vorübergehend umfassende Rechte gibt, ohne dass sie das Asylverfahren durchlaufen müssen. Ohne diese Massnahme wäre das Schweizerische Asylsystem überfordert. Und auch Behörden und Hilfswerke haben schnell nach gemeinsamen Lösungen gesucht. So wurden z.B. unter der Koordination der Schweizerischen Flüchtlingshilfe bereits im März erste Strukturen in den Bundesasylzentren in Betrieb genommen, um Geflüchtete an Private zu vermitteln.

Die vergangenen Wochen haben aber auch gezeigt, dass das föderale Asylsystem der Schweiz für die Bewältigung solcher Krisen zwar viele Vorteile hat, aber auch aufwändig ist. Es gibt 26 verschiedene Lösungsansätze in den Kantonen, teilweise sind sogar die Gemeinden zuständig. Insbesondere der Aufbau der Strukturen und Prozesse hat Zeit beansprucht und ist teilweise immer noch in Gang. Gastfamilien und Geflüchtete beklagen sich über unklare Ansprechstellen oder über die verspätete Auszahlung von Sozialhilfegeldern. Auch kommt es bereits wieder zu ersten Auflösungen von Gastfamilien. Letztere zeigen, dass Solidarität nicht selbstverständlich ist. Im Gegenteil: Damit die privaten Unterbringungen von Dauer sind, braucht es eine Unterstützung und Begleitung der Freiwilligen. Gastfamilien müssen sich Hilfe holen können, wenn sie Fragen zur Unterbringung und Betreuung von Geflüchteten haben. Und es braucht höhere Ansätze in der Asylsozialhilfe. In einzelnen Kantonen und Gemeinden erhalten Geflüchtete aus der Ukraine gerade einmal 300 Franken pro Monat. Das ist zu wenig.

Gleiche Rechte für alle Geflüchteten

Die aktuelle Situation verdeutlicht auch, wie unterschiedlich die Schweiz mit verschiedenen weltpolitischen Krisen und den damit verbundenen Flüchtlingsbewegungen umgeht. So eindrücklich die aktuelle Solidarität mit den Geflüchteten aus der Ukraine ist: So solidarisch wie jetzt war die Schweiz gegenüber Geflüchteten in jüngerer Zeit nur selten. Insbesondere die Politik hat sich in den letzten Jahren zunehmend durch Abschottung und Abwehr gekennzeichnet. Noch im vergangenen Jahr, im Zuge der erneuten Machtübernahme der Taliban in Afghanistan, hat sich die Schweiz äusserst restriktiv gezeigt. Es wurden kaum humanitäre Visa an Afghaninnen und Afghanen vergeben, trotz deren Gefährdung in ihrem Herkunftsland. Auch wurde kein zusätzliches Resettlement-Kontingent beschlossen. Und auch gegenüber Geflüchteten aus anderen Ländern wie Syrien oder Eritrea, aus denen Menschen vor Konflikten,  Bürgerkriegen und schweren Menschenrechtsverletzungen flüchten, hat die Schweiz zumeist eine harte Haltung gezeigt. Menschen aus diesen Ländern erhalten hier in aller Regel höchstens eine vorläufige Aufnahme, mit deutlich eingeschränkteren Rechten als die Menschen aus der Ukraine. Wie schwierig deren Ankommen in der Schweiz und die Integration in die lokale Gesellschaft ist, zeigt das Beispiel von Ahmad Soroush Rosta. Dessen Geschichte hat die SFH ebenfalls im Rahmen der Kampagne zum diesjährigen Flüchtlingstag aufgegriffen. Soroush beschreibt sein Leben in der Schweiz wie «einen Raum ohne Türen, mit einem kleinen Fenster», welches höchstens einen schwachen Lichtblick nach draussen ermöglicht.

Gastfamilien als Modell

Für die SFH ist klar: Alle Geflüchteten sollen die gleichen Rechte haben, wenn sie auf den Schutz der Schweiz angewiesen sind. Und die vorläufige Aufnahme soll durch einen positiven Schutzstatus ersetzt werden. Das aktuell praktizierte Gastfamilienmodell und die herrschende Solidarität mit den ukrainischen Geflüchteten kann dabei Vorbildcharakter haben für den Umgang mit Geflüchteten auch aus anderen Weltregionen. Für die Solidarität mit anderen Flüchtlingsgemeinschaften gibt es auch bereits gute Beispiele. So war das 2014 erstmalig lancierte Gastfamilienprojekt der SFH ursprünglich auf syrische Geflüchtete ausgerichtet. Und in einzelnen Kantonen wie Basel-Stadt, der Waadt oder in Schaffhausen werden bereits seit Jahren Geflüchtete in Gastfamilien vermittelt. Diese Projekte ermöglichen es auch Menschen aus Afghanistan oder Eritrea, in der Schweiz Fuss zu fassen und in der Mitte der Gesellschaft anzukommen. Dies ganz im Sinne des Slogans der diesjährigen Kampagne der SFH zum Flüchtlingstag: «Willkommen in der Schweiz. Wir sind für alle Geflüchteten da».

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