Seraina Nufer, Co-Abteilungsleiterin Protection
Die junge Mutter musste mit ihren beiden Kindern von einem Tag auf den andern fliehen – vor Bomben und Raketen, die auch die Zivilbevölkerung rücksichtslos treffen. Sie brauchen drei Dinge:
1. Zugang zu Schutz: Sie müssen ein sicheres Gebiet erreichen, wo sie um Schutz ersuchen können.
2. Aufnahme: ein Dach über dem Kopf und zu Essen.
3. Eine Perspektive: Auch wenn sie am liebsten in ihre Heimat zurückkehren würden - das ist zurzeit nicht möglich. Es ist unklar, wie lange der Kriegszustand noch anhält. Solange sie nicht zurückkönnen, müssen sie in der Schweiz Fuss fassen können: die Sprache lernen, Kontakte knüpfen, wenn möglich einen Job finden. Die Kinder müssen zur Schule gehen können. Damit sie sich auf das Leben in der Schweiz einstellen können, müssen sie wissen, dass ihre Familie in Sicherheit ist: dass ihr Mann bzw. Vater ebenfalls in die Schweiz kommen kann, sobald auch ihm die Flucht möglich ist, und dass sie den Kontakt pflegen können mit ihren Verwandten, die auch geflohen sind und nun in verschiedenen europäischen Ländern leben.
Krieg ist Krieg
Die junge Mutter könnte aus der Ukraine kommen, sie könnte aber auch aus Syrien oder Afghanistan kommen. Denn aus Sicht der Geflüchteten spielt es keine Rolle, ob der Krieg, vor dem sie fliehen, ein Angriffskrieg eines anderen Staates ist oder ein Bürgerkrieg zwischen zwei Parteien innerhalb eines Staates – die Gefahr für Leib und Leben ist dieselbe. Die Geflüchteten brauchen Schutz, Aufnahme und eine Perspektive, solange sie nicht zurückkehren können. Das gilt für alle, die vor Krieg, Bürgerkrieg oder einer Situation allgemeiner Gewalt fliehen - sei es aus der Ukraine, aus Syrien, Afghanistan, Somalia oder einem anderen Land.
Positive Aufnahme Geflüchteter aus der Ukraine
Nach Ausbruch des Kriegs in der Ukraine reagierte der Bundesrat schnell und pragmatisch. Rasch kündigte er an, dass Geflüchtete aus der Ukraine aufgenommen werden. Die beteiligten Akteure waren sich einig darüber, was getan werden muss, um die Geflüchteten zu unterstützen, und arbeiten seit Kriegsausbruch konstruktiv zusammen. Die Einreise Geflüchteter wurde umgehend auch ohne die sonst notwendigen Identitätsdokumente erlaubt. Der Schutzstatus S wurde nicht nur rasch aktiviert, sondern auch grosszügiger ausgestaltet als im Gesetz ursprünglich vorgesehen: Ukrainer*innen dürfen unbeschränkt reisen und sofort arbeiten. Sie können ihre Familie sofort nachziehen. Darüber hinaus dürfen Ukrainer*innen zurzeit gratis den öffentlichen Verkehr benutzen und erhalten gratis SIM-Cards.
Dieser pragmatische und grosszügige Umgang mit Geflüchteten aus der Ukraine ist äusserst begrüssenswert. Er zeigt, was möglich ist, wenn der politische Wille vorhanden ist. Aber: Müssten diese Massnahmen nicht auch für andere Geflüchtete aus anderen Weltregionen gelten, die vor Krieg geflohen sind? Die Ungleichbehandlung von Geflüchteten unterschiedlicher Herkunft fällt seit Ausbruch des Kriegs in der Ukraine besonders auf: Wie ist zu rechtfertigen, dass vorläufig aufgenommene Afghan*innen (F-Bewilligung) drei Jahre warten und strenge Voraussetzungen (Sozialhilfeunabhängigkeit, genügend grosse Wohnung, Sprachkenntnisse der nachzuziehenden Person) erfüllen müssen, bis sie ein Gesuch um Familiennachzug stellen dürfen? Für Ukrainer*innen mit Schutzstatus S bestehen weder Wartefrist noch finanzielle Bedingungen für den Familiennachzug. Warum sollten vorläufig aufgenommene Syrer*innen kein Bedürfnis haben, ihre Verwandten in Europa zu besuchen? Während dies für Ukrainer*innen umgehend als selbstverständlich anerkannt wurde, erhalten vorläufig Aufgenommene nur dann eine Reisebewilligung, um ihre Verwandten in anderen europäischen Ländern zu besuchen, wenn diese entweder schwer krank oder bereits verstorben sind.
Gleiche Rechte
Spätestens jetzt muss klar sein: Einmal in der Schweiz angekommen, brauchen Geflüchtete bei uns nicht nur ein Dach über dem Kopf, sondern gleiche Rechte: rascher, bedingungsloser Familiennachzug; Reisefreiheit in einem Europa offener Binnengrenzen; ausreichende finanzielle Unterstützung; Zugang zu Arbeit und Integrationsmassnahmen. Das muss für alle Geflüchteten gleichermassen gelten, sobald ihr Schutzbedarf anerkannt ist und solange sie nicht in ihre Heimat zurückkehren können. Es ist deshalb höchste Zeit, die vorläufige Aufnahme durch einen Schutzstatus zu ersetzen, der Rechtsgleichheit schafft. Denn die Erfahrung mit den Konflikten in Somalia, Afghanistan, Syrien zeigt, dass vorläufig aufgenommene Personen oft langfristig in der Schweiz bleiben. Entsprechend wird auch die Integration von vorläufig Aufgenommenen explizit gefördert.
Die Einschränkungen beim Familiennachzug oder bei der Reisefreiheit für vorläufig Aufgenommene sind nicht gerechtfertigt. Der sinnvolle und unkomplizierte Umgang mit den ukrainischen Geflüchteten zeigt dies deutlicher auf denn je. Auch ist nicht ersichtlich, warum sowohl Geflüchtete mit einer vorläufigen Aufnahme als auch solche mit Schutzstatus S weniger Sozialhilfe erhalten sollen als anerkannte Flüchtlinge, die Sozialhilfe gemäss SKOS-Richtlinien wie Schweizer Bürger*innen erhalten. Die komplizierte Differenzierung beim Umfang gewährter Rechte je nach Bewilligung kann angesichts des vergleichbaren Schutzbedarfs und der realen Aufenthaltsdauer in der Schweiz nicht gerechtfertigt werden. Es ist höchste Zeit für die Gleichbehandlung aller Geflüchteter, die den Schutz der Schweiz ebenso benötigen.