Seraina Nufer, Co-Abteilungsleiterin Protection
Das Dublin-System regelt, welcher europäische Staat für die Durchführung eines Asylgesuchs zuständig ist. Meist ist es der Staat, in dem die asylsuchende Person zuerst europäisches Gebiet betreten hat. Geografisch bedingt ist dies meist nicht die Schweiz. Entsprechend schicken die Schweizer Behörden Asylsuchende regelmässig im Dublin-Verfahren zurück in den zuständigen Staat. Auch Personen, die in einem anderen europäischen Staat bereits einen Schutzstatus erhalten haben, werden dorthin zurückgeschickt – gestützt auf bilaterale Rückübernahmeabkommen mit diesen «sicheren» Drittstaaten.
Theorie vs. Realität
Beide Regelungen basieren auf der Annahme, dass innerhalb Europas vergleichbare Standards herrschen für Asylverfahren, Aufnahme und Schutzgewährung. Doch dies entspricht leider nicht der Realität: In Italien oder Griechenland ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass eine asylsuchende Person oder ein anerkannter Flüchtling auf der Strasse landet, weil die Anzahl Unterbringungsplätze bei weitem nicht ausreicht. Der Schutzstatus von anerkannten Flüchtlingen besteht nur auf dem Papier; es gibt keine tatsächliche Unterstützung wie eine Unterkunft, Sozialhilfe oder ausreichende Integrationsmassnahmen. In Griechenland wurden die Rechte für anerkannte Flüchtlinge seit 2020 weiter eingeschränkt, so dass sie komplett auf sich alleine gestellt sind.
Die Pandemie hat die bereits vorher schwierige wirtschaftliche Situation in diesen Ländern zusätzlich verschärft. Die Arbeitslosigkeit ist bereits unter der einheimischen Bevölkerung hoch; umso kleiner sind die Chancen für Asylsuchende und Flüchtlinge – ohne Sprachkenntnisse und im Asylland anerkannte Schul- und Berufsabschlüsse – eine Arbeitsstelle zu finden. Ihnen fehlt auch das familiäre Netzwerk, welches in der einheimischen Bevölkerung häufig die nicht funktionierenden oder gar nicht existierenden Sozialsysteme ersetzt. Wie eine geflüchtete Person so in der neuen Gesellschaft Fuss fassen soll, ist schwer vorstellbar. Stattdessen droht ihr eine langfristige Situation der Prekarität und Perspektivenlosigkeit.
Die Schweizer Praxis berücksichtigt die tatsächlichen Mängel jedoch nur unzureichend: So hat das Bundesverwaltungsgericht (BVGer) in seinem jüngsten Referenzurteil zu Italien die Anforderungen an Dublin-Überstellungen von psychisch Erkrankten nach Italien gelockert. Dies widerspricht der Einschätzung der SFH, welche aufgrund der mangelnden Unterstützung vor Ort von Überstellungen von psychisch Erkrankten nach Italien (wie auch nach Kroatien) abrät. In einem Referenzurteil vom Oktober 2021 hielt das BVGer fest, die Situation von asylsuchenden Familien in Italien habe sich aufgrund von Gesetzesänderungen verbessert. Das Urteil verkennt, dass diese Änderungen nur auf Papier bestehen, und sich die tatsächliche Situation keineswegs verbessert hat, wie die SFH im Update ihres Italien-Berichts vom Juni 2021 feststellt. Bezüglich Griechenland anerkennt das BVGer in einem aktuellen Referenzurteil zwar die erschwerte Situation für besonders vulnerable Personen mit Schutzstatus, geht aber aus Sicht der SFH zu wenig weit und hält dennoch grundsätzlich an Überstellungen von Schutzberechtigten nach Griechenland fest.
Systemische Probleme
Die Realität von geflüchteten Menschen liegt also häufig weit entfernt von der Grundannahme vergleichbarer Asyl- und Aufnahmesysteme in Europa. Mittlerweile dokumentieren dies zahlreiche Berichte aus verschiedenen Quellen. Es geht denn auch um weit mehr als um Einzelfälle – es gibt systemische Probleme. Ein Beispiel: Der Europarats-Ausschuss zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung (CPT) dokumentiert in seinem Bericht vom Dezember 2021, dass an der kroatischen Grenze systematisch Menschenrechte missachtet und Schutzsuchende gewaltsam zurückgeschoben wurden. Solche Erkenntnisse müssten das Vertrauen erschüttern, dass die kroatischen Behörden die Menschenrechte von Geflüchteten einhalten. Dennoch werden nach wie vor Personen nach Kroatien überstellt.
Wie umgehen mit der Diskrepanz?
Die Dublin-Verordnung enthält eine Notbremse: Wenn «es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in diesem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung» mit sich bringen, darf die asylsuchende Person nicht in diesen Staat überstellt werden. Aber auch wenn keine systemischen Mängel vorliegen, sondern aufgrund der individuellen Umstände eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht, muss auf eine Überstellung verzichtet werden. Dies gilt auch für sichere Drittstaaten-Fälle. Sobald also Hinweise auf Mängel vorliegen, muss die Situation im Einzelfall näher abgeklärt werden.
Höchste Zeit, die Hinweise zu berücksichtigen
Mittlerweile liegen zahlreiche deutliche Hinweise vor, dass die realen Bedingungen für Schutzsuchende in Europa vielerorts nicht den Normen auf dem Papier entsprechen. Das Bundesverwaltungsgericht weist denn auch bereits heute auf Beschwerde hin einzelne Fälle zurück ans Staatssekretariat für Migration (SEM) mit der Auflage, die Umstände näher abzuklären. In vielen Fällen jedoch bestätigt das Gericht die restriktive Praxis des SEM und stützt sich auf die allgemeine Annahme, dass die Menschenrechtsnormen eingehalten werden. In mehreren Dublin- und sicheren-Drittstaaten-Fällen haben verschiedene UNO-Ausschüsse Überstellungen von der Schweiz in andere europäische Länder wie Bulgarien oder Griechenland vorsorglich gestoppt. Auch das bestätigt, dass die Praxis der Schweizer Behörden deutlich zu streng ist. Es ist höchste Zeit, dass die Schweizer Behörden Hinweise auf menschenrechtlich problematische Bedingungen in Dublin- oder sicheren Drittstaaten ernst nehmen und vertieft abklären, welche tatsächliche Situation Schutzsuchende nach einer Überstellung erwartet. Blindes Vertrauen reicht nicht.