Das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) vermeldete diese Woche, dass alle lokalen DEZA-Mitarbeitenden und ihre Angehörigen aus Kabul evakuiert worden sind. Insgesamt handelt es sich um rund 230 Personen, für welche die Landesregierung am 18. August eine humanitäre Aufnahme beschlossen hatte. Die weitere Kommunikation des EDA liess erkennen, dass die Schweizerischen Evakuierungsaktionen aus Afghanistan damit grösstenteils abgeschlossen sind. Nur einen Tag später kündigte US-Präsident Joe Biden an, die US-Truppen, welche aktuell den Flughafen in Kabul sichern, bis zum 31. August abzuziehen. Somit bleibt völlig unklar, wie es nach dem 31. August weitergehen wird. Auch wenn die Taliban dem deutschen Botschafter in Afghanistan angeblich zugesichert haben, dass auch nach dem 31. August Afghaninnen und Afghanen das Land verlassen dürften, schliesst sich das Zeitfenster für die Menschen, die das Land verlassen möchten.
Gemäss US-Angaben wurden bisher 70'000 Menschen aus Afghanistan evakuiert. Dieser Zahl steht eine viel grössere Anzahl an Menschen gegenüber, welche aufgrund ihrer Vergangenheit ebenfalls dringend aus Afghanistan evakuiert werden sollten: Hochschullehrerinnen, politische Aktivisten, Journalistinnen, Künstler, ehemalige Regierungsangestellte. Ihnen allen droht unter dem neuen Regime Verfolgung. Die Interessengruppe «Foreign Policy for America» schätzt die Anzahl besonders gefährdeter Afghaninnen und Afghanen auf 200'000, das «Center for Strategic and international Studies» spricht sogar von einer halben Million Menschen. Damit wird klar: Der Westen überlässt die Afghanen ihrem Schicksal.
Frage an die Bundesrätin
Insbesondere für die afghanischen Frauen und Mädchen ist dies verheerend. Diese gehen einer völlig ungewissen Zukunft entgegen. Düstere Erinnerungen an die erste Herrschaft der Taliban kommen auf. Damals wurden die Frauen aus dem öffentlichen Leben verbannt, mit Berufsverboten belegt, mit Taliban-Kämpfern verheiratet, letztlich ihrer Würde und ihrer Chancen auf ein selbstbestimmtes Leben beraubt. Das Schicksal der afghanischen Frauen beschäftigt und berührt. Die Frage muss deshalb vor dem Hintergrund der aktuellen Haltung des Bundesrats erlaubt sein: Frau Keller-Sutter, hat die Schweiz wirklich genug getan, um afghanischen Frauen und Mädchen in der aktuellen Situation zu helfen? Sie sind eine freie und selbstbestimmte Frau, die an der Spitze der Politik steht und sich beruflich verwirklichen konnte. Die unserem Land etwas mitgeben und dessen Schicksal mitprägen kann. In Afghanistan gibt es Hunderttausende Mädchen und Frauen, die das ebenfalls möchten. Die ebenfalls Ziele, Träume und Ansprüche haben. Stattdessen aber vernehmen wir von dort nun wieder Frauenstimmen, welche sich vor den Massnahmen der Taliban fürchten, welche Angst davor haben, dass es erneut zu Berufs- und Schulverboten kommen wird, welche befürchten, wieder aus dem öffentlichen Leben verbannt zu werden oder welche sogar Angst um ihr Leben haben.
Angst vor Zwangsheiraten
Uns von der Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH) erreichen jeden Tag Dutzende von Schreiben und Anrufe von verzweifelten Personen aus Afghanistan, welche fragen, wie sie ihr Land verlassen können. Oder von in der Schweiz ansässigen Afghanen, welche sich erkundigen, wie sie ihren Familienangehörigen vor Ort helfen und diese zu sich in die Schweiz holen können. So erreichte uns kürzlich das Schreiben einer Frau, die in Afghanistan in einem Kinderhort die Kinder von Regierungsbeamten betreut hatte. Sie hat selbst mehrere Kinder, darunter zwei Mädchen im Alter von 15 und 16 Jahren und befürchtet nun, dass die Taliban die Beiden zwangsverheiraten könnten. Auch mussten wir vernehmen, dass die Taliban in einigen ländlichen Gebieten den Frauen wieder verbieten wollen, ohne männliche Begleitung und Burka aus dem Haus zu gehen. Gerne möchte ich mich deshalb nochmals an Sie, Frau Bundesrätin Keller-Sutter, richten. Eine Frau, die gezeigt hat, was Frauen erreichen können und mit ihren Leistungen viele Menschen in unserem Land stolz gemacht hat. Berührt Sie das Schicksal der afghanischen Frauen, all dieser Personen, welche nun wieder auf sich alleine gestellt sind, nicht auch? Kann die Schweiz wirklich nicht mehr tun, als 230 Menschen aus Afghanistan zu evakuieren?
Gefährliche Flucht
Auch wenn wir nicht genau wissen, wie sich die Taliban nach dem Abzug der ausländischen Truppen verhalten werden, eines scheint klar zu sein: Viele Menschen werden versuchen, das Land zu verlassen. Die humanitäre Lage in Afghanistan ist katastrophal. Das Land ist verheert von fast 20 Jahren Bürgerkrieg. Zudem leidet das Land seit längerer Zeit unter einer Dürre, die Preise von Grundnahrungsmitteln sind in den letzten Monaten in die Höhe geschossen. Inzwischen treten auch Engpässe bei der Versorgung mit Medikamenten auf. Wenn es über Kabul keine Fluchtmöglichkeiten gibt, werden sich die Flüchtenden auf die gefährlichen Landwege begeben, um in ein Nachbarland Afghanistans zu gelangen, insbesondere nach Pakistan oder Iran. Gerade für Frauen und Mädchen ist eine Flucht aber gefährlich. Sie dürften zur Zielscheibe der Taliban werden, insbesondere, wenn sie alleine unterwegs sind. Ausserdem sind sie auf der Flucht dem Risiko geschlechtsspezifischer oder sexueller Gewalt ausgesetzt.
Erleichterung von humanitären Visa und mehr Resettlement
Auch vor diesem Hintergrund muss die Schweiz mehr tun, um den Frauen in Afghanistan zu helfen. Die Erteilung von humanitären Visa muss insbesondere für sie erleichtert, entsprechende Hürden minimiert werden. Im Schweizer Asylrecht bestehen mit der Erteilung von humanitären Visa und der Familienzusammenführung Instrumente, um Schutzsuchenden rasch einen sicheren Weg in die Schweiz zu ebnen.
Dann ist das Resettlement zu stärken. Das Resettlement-Kontingent der Schweiz sieht neben den regelmässigen, jährlichen Kontingenten explizit eine Option für humanitäre Notlagen vor. Der Bundesrat soll deshalb in Rücksprache mit den Kantonen, Gemeinden und Städten umgehend die zusätzliche humanitäre Aufnahme von möglichst vielen Resettlement-Flüchtlingen beschliessen – namentlich von besonders verletzlichen Geflüchteten wie Kindern, Familien und eben Frauen und Mädchen – und in Zusammenarbeit mit dem UNHCR umsetzen.
Die Zurückhaltung der Schweiz in der aktuellen Lage ist nicht nachvollziehbar. Wir durchlaufen zurzeit einen jener Momente, in denen es zentral ist, dass sich die Schweiz ihrer humanitären Tradition bewusst wird. Die Schweiz soll und muss jetzt helfen und sich mit anderen Ländern und der UNO absprechen und koordinieren. Die rechtlichen Grundlagen sind vorhanden. Jetzt braucht es nur noch politischen Mut und beherztes Handeln!