Das Verschwinden der Afghaninnen aus der Ă–ffentlichkeit

02. Februar 2023

Seit der Machtübernahme durch die Taliban werden afghanische Frauen ihrer Grundrechte beraubt und in allen Lebensbereichen diskriminiert. Vor dem Hintergrund der schweren humanitären Krise und der weit verbreiteten Menschenrechtsverletzungen in Afghanistan sollte die Erteilung von humanitären Visa für sämtliche gefährdeten Afghaninnen und Afghanen erleichtert und beschleunigt werden.

Frederik Kok, Länderexperte 

Seit August 2021 haben die Taliban entgegen ihren ersten Versprechen, die Rechte der Frauen im Rahmen der Scharia zu wahren, kontinuierlich neue frauenfeindliche Regeln erlassen. Dies mit der Absicht, die afghanischen Frauen und Mädchen aus den meisten Bereichen des täglichen und öffentlichen Lebens zu verdrängen. Bereits am 18. September 2021 haben die Taliban das ehemalige Ministerium für Frauenangelegenheiten aufgehoben und daraus das «Ministerium für die Verbreitung von Tugend und die Verhütung von Lastern» geschaffen. Letzteres war bereits während des ersten Talibanregimes von 1996 bis 2001 Symbol für den notorischen Missbrauch von Frauen und Mädchen gewesen. Frauen wurde mit dem Schritt vom September 2021 das Recht auf politische Teilhabe und damit jegliche Möglichkeit genommen, auf Angelegenheiten Einfluss zu nehmen, die sie betreffen. Dies sollte sich für das weitere Vorgehen der Taliban gegen die Afghaninnen als wegweisend erweisen.

Verschärfung der Einschränkungen und Diskriminierung der Frauen

Inzwischen «empfehlen» die Taliban allen Frauen, das Haus nur noch zu verlassen, wenn es unbedingt notwendig ist. Ohne männlichen Vormund dürfen Frauen keine Behörden aufsuchen oder innerhalb des Landes keine längere Reise antreten, geschweige denn ins Ausland reisen. Ihnen wird vorgeschrieben, wie sie sich zu kleiden haben, das heisst sie müssen sich von Kopf bis Fuss bedecken. Frauen, die zu farbenfrohe Kleider tragen, werden schikaniert und nach Hause geschickt. Falls sich Frauen nicht regelkonform verhalten, ordnen die Taliban auch Disziplinarmassnahmen gegen die Ehemänner, Väter und Brüder an. Dass die männlichen Familienmitglieder von den Taliban für die Einhaltung der Regeln verantwortlich gemacht und inhaftiert werden, verstärkt den Druck auf die weiblichen Familienmitglieder massiv.

Nachdem die Taliban während des ersten Jahres ihrer Herrschaft den Zugang der Frauen und Mädchen zu Bildung oder Arbeit drastisch eingeschränkt haben, schockieren sie seither mit immer neuen Einschränkungen. So verboten sie den Frauen die Weiterführung ihres Studiums an den Universitäten. Bereits vorher haben sie den Frauen untersagt, gewisse Studienfächer wie Veterinärwissenschaften, Ingenieurwissenschaften, Wirtschaft oder Landwirtschaft zu studieren. Oder sie behaupteten, dass Frauen nicht geeignet seien Richterinnen und Anwältinnen zu sein, da sie zu wenig Ahnung von der Scharia hätten. Ende Januar 2023 bezeichneten die UN-Sonderberichterstatterin für die Unabhängigkeit von Richtern und Anwälten, Margaret Satterthwaite, und der UN-Sonderberichterstatter für die Lage der Menschenrechte in Afghanistan, Richard Bennett, die Diskriminierung der Frauen in Afghanistan als «unverschämt». In einem Akt «dreister Diskriminierung» versuchten die Taliban, alle Frauen von der Teilnahme am Rechtssystem auszuschliessen. Sie forderten die internationale Gemeinschaft dazu auf, Afghan*innen, insbesondere Frauen, die von Repressalien und Angriffen durch die Taliban und andere bedroht sind, Schutz und sicheres Geleit zu bieten.

Mangelnder Schutz fĂĽr Frauen

Geschlechtsspezifische Gewalt kann kaum mehr gemeldet werden, da Frauen nicht mehr alleine auf eine Polizeistation gehen können, um Gewalt innerhalb der Familie anzuzeigen. Da die Frauenhäuser von den Taliban geschlossen wurden, haben Frauen und Mädchen ihre letzten sichern Zufluchtsorte verloren. Dies hat für Afghaninnen zahllose physische und psychosoziale Kosten und Risiken zur Folge, etwa Kinderheiraten, Depressionen oder Selbstmorde aufgrund der Ausgrenzung und Perspektivlosigkeit. Auch das Risiko, Opfer häuslicher Gewalt zu werden, hat sich erhöht. Gemäss Amnesty International ist seit dem Machtwechsel tatsächlich bereits ein Anstieg von Kinder-, Früh- und Zwangsehen zu verzeichnen.

Seit der oberste Taliban-Führer Haibatullah Akhundzada im November 2022 angeordnet hat, Körperstrafen wie Amputationen, Steinigungen oder Auspeitschungen vollständig anzuwenden, mehren sich die Berichte über körperliche Züchtigungen auch von Frauen, die wegen sogenannt moralischer Verbrechen ausgepeitscht werden. Dies erinnert an die weltweit verbreiteten Schreckensbilder von öffentlichen Hinrichtungen im Ghazi Stadium in Kabul während des ersten Taliban-Regimes von 1996 bis 2001.

Eine beispiellose humanitäre Krise

Die letzten Massnahmen gegen Afghaninnen wurden Mitte Dezember in der Weihnachtszeit erlassen: Internationale Hilfsorganisationen dürfen nicht mehr Frauen einstellen, sonst wird ihnen die Erlaubnis entzogen, weiterhin im Land zu arbeiten. Dies wird dramatische Auswirkungen auf die bereits angespannte humanitäre Lage haben.

Die unerwartet schnelle Machtübernahme durch die Taliban am 15. August 2021, die fehlenden Übergangsregelungen sowie der abrupte Wegfall der internationalen Finanzhilfe haben Afghanistan in eine wirtschaftliche, finanzielle und humanitäre Krise von bisher ungekanntem Ausmass gestürzt. Heute leben 97 Prozent der Afghan*innen in Armut, etwa 24,4 Millionen Menschen sind auf humanitäre Hilfe angewiesen und 6 Millionen stehen am Rande einer Hungersnot.

Es braucht mehr humanitäre Visa

Die Menschenrechte und Grundfreiheiten der afghanischen Bevölkerung werden immer wieder in unverhältnismässiger Weise eingeschränkt. Menschenrechtsverletzungen wie willkürliche Festnahmen und Inhaftierungen, Folter, Misshandlungen und sogar Tötungen gehören in Afghanistan wieder zum Alltag. Viele Personengruppen befürchten, unter dem Taliban-Regime verfolgt oder missbraucht zu werden; Hunderttausende haben seither das Land verlassen.

Während sich die Aufmerksamkeit in Europa, einschließlich der Schweiz, weitgehend auf die Situation der aus der Ukraine geflüchteten Menschen konzentriert, darf die Lage von Millionen von Menschen in Afghanistan nicht vergessen werden. Einige Länder reagieren darauf, wie Dänemark, das am 30. Januar 2023 beschloss, afghanischen Frauen und Mädchen aufgrund ihres Geschlechts systematisch Asyl zu gewähren, da sich ihre Lebensbedingungen in Afghanistan immer weiter verschlechtert haben. Die Menschen flüchten vor allem in den Iran und nach Pakistan, nur eine Minderheit in die Schweiz, vor allem, weil die Schweiz keinen legalen und sicheren Weg für die schutzsuchenden Afghaninnen und Afghanen bietet. Humanitäre Visa werden von der Schweiz seit der Machtübernahme der Taliban nur sehr restriktiv ausgestellt. In Anbetracht der Entwicklungen in Afghanistan sollte die Schweiz die Erteilung von humanitären Visa für sämtliche gefährdeten Afghaninnen und Afghanen erleichtern und beschleunigen. Angesichts der noch nie dagewesenen humanitären Krise in Afghanistan ist die restriktive Praxis des SEM nicht länger haltbar.

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