Frederik Kok, LĂ€nderexperte
Seit August 2021 haben die Taliban entgegen ihren ersten Versprechen, die Rechte der Frauen im Rahmen der Scharia zu wahren, kontinuierlich neue frauenfeindliche Regeln erlassen. Dies mit der Absicht, die afghanischen Frauen und MĂ€dchen aus den meisten Bereichen des tĂ€glichen und öffentlichen Lebens zu verdrĂ€ngen. Bereits am 18. September 2021 haben die Taliban das ehemalige Ministerium fĂŒr Frauenangelegenheiten aufgehoben und daraus das «Ministerium fĂŒr die Verbreitung von Tugend und die VerhĂŒtung von Lastern» geschaffen. Letzteres war bereits wĂ€hrend des ersten Talibanregimes von 1996 bis 2001 Symbol fĂŒr den notorischen Missbrauch von Frauen und MĂ€dchen gewesen. Frauen wurde mit dem Schritt vom September 2021 das Recht auf politische Teilhabe und damit jegliche Möglichkeit genommen, auf Angelegenheiten Einfluss zu nehmen, die sie betreffen. Dies sollte sich fĂŒr das weitere Vorgehen der Taliban gegen die Afghaninnen als wegweisend erweisen.
VerschÀrfung der EinschrÀnkungen und Diskriminierung der Frauen
Inzwischen «empfehlen» die Taliban allen Frauen, das Haus nur noch zu verlassen, wenn es unbedingt notwendig ist. Ohne mĂ€nnlichen Vormund dĂŒrfen Frauen keine Behörden aufsuchen oder innerhalb des Landes keine lĂ€ngere Reise antreten, geschweige denn ins Ausland reisen. Ihnen wird vorgeschrieben, wie sie sich zu kleiden haben, das heisst sie mĂŒssen sich von Kopf bis Fuss bedecken. Frauen, die zu farbenfrohe Kleider tragen, werden schikaniert und nach Hause geschickt. Falls sich Frauen nicht regelkonform verhalten, ordnen die Taliban auch Disziplinarmassnahmen gegen die EhemĂ€nner, VĂ€ter und BrĂŒder an. Dass die mĂ€nnlichen Familienmitglieder von den Taliban fĂŒr die Einhaltung der Regeln verantwortlich gemacht und inhaftiert werden, verstĂ€rkt den Druck auf die weiblichen Familienmitglieder massiv.
Nachdem die Taliban wĂ€hrend des ersten Jahres ihrer Herrschaft den Zugang der Frauen und MĂ€dchen zu Bildung oder Arbeit drastisch eingeschrĂ€nkt haben, schockieren sie seither mit immer neuen EinschrĂ€nkungen. So verboten sie den Frauen die WeiterfĂŒhrung ihres Studiums an den UniversitĂ€ten. Bereits vorher haben sie den Frauen untersagt, gewisse StudienfĂ€cher wie VeterinĂ€rwissenschaften, Ingenieurwissenschaften, Wirtschaft oder Landwirtschaft zu studieren. Oder sie behaupteten, dass Frauen nicht geeignet seien Richterinnen und AnwĂ€ltinnen zu sein, da sie zu wenig Ahnung von der Scharia hĂ€tten. Ende Januar 2023 bezeichneten die UN-Sonderberichterstatterin fĂŒr die UnabhĂ€ngigkeit von Richtern und AnwĂ€lten, Margaret Satterthwaite, und der UN-Sonderberichterstatter fĂŒr die Lage der Menschenrechte in Afghanistan, Richard Bennett, die Diskriminierung der Frauen in Afghanistan als «unverschĂ€mt». In einem Akt «dreister Diskriminierung» versuchten die Taliban, alle Frauen von der Teilnahme am Rechtssystem auszuschliessen. Sie forderten die internationale Gemeinschaft dazu auf, Afghan*innen, insbesondere Frauen, die von Repressalien und Angriffen durch die Taliban und andere bedroht sind, Schutz und sicheres Geleit zu bieten.
Mangelnder Schutz fĂŒr Frauen
Geschlechtsspezifische Gewalt kann kaum mehr gemeldet werden, da Frauen nicht mehr alleine auf eine Polizeistation gehen können, um Gewalt innerhalb der Familie anzuzeigen. Da die FrauenhĂ€user von den Taliban geschlossen wurden, haben Frauen und MĂ€dchen ihre letzten sichern Zufluchtsorte verloren. Dies hat fĂŒr Afghaninnen zahllose physische und psychosoziale Kosten und Risiken zur Folge, etwa Kinderheiraten, Depressionen oder Selbstmorde aufgrund der Ausgrenzung und Perspektivlosigkeit. Auch das Risiko, Opfer hĂ€uslicher Gewalt zu werden, hat sich erhöht. GemĂ€ss Amnesty International ist seit dem Machtwechsel tatsĂ€chlich bereits ein Anstieg von Kinder-, FrĂŒh- und Zwangsehen zu verzeichnen.
Seit der oberste Taliban-FĂŒhrer Haibatullah Akhundzada im November 2022 angeordnet hat, Körperstrafen wie Amputationen, Steinigungen oder Auspeitschungen vollstĂ€ndig anzuwenden, mehren sich die Berichte ĂŒber körperliche ZĂŒchtigungen auch von Frauen, die wegen sogenannt moralischer Verbrechen ausgepeitscht werden. Dies erinnert an die weltweit verbreiteten Schreckensbilder von öffentlichen Hinrichtungen im Ghazi Stadium in Kabul wĂ€hrend des ersten Taliban-Regimes von 1996 bis 2001.
Eine beispiellose humanitÀre Krise
Die letzten Massnahmen gegen Afghaninnen wurden Mitte Dezember in der Weihnachtszeit erlassen: Internationale Hilfsorganisationen dĂŒrfen nicht mehr Frauen einstellen, sonst wird ihnen die Erlaubnis entzogen, weiterhin im Land zu arbeiten. Dies wird dramatische Auswirkungen auf die bereits angespannte humanitĂ€re Lage haben.
Die unerwartet schnelle MachtĂŒbernahme durch die Taliban am 15. August 2021, die fehlenden Ăbergangsregelungen sowie der abrupte Wegfall der internationalen Finanzhilfe haben Afghanistan in eine wirtschaftliche, finanzielle und humanitĂ€re Krise von bisher ungekanntem Ausmass gestĂŒrzt. Heute leben 97 Prozent der Afghan*innen in Armut, etwa 24,4 Millionen Menschen sind auf humanitĂ€re Hilfe angewiesen und 6 Millionen stehen am Rande einer Hungersnot.
Es braucht mehr humanitÀre Visa
Die Menschenrechte und Grundfreiheiten der afghanischen Bevölkerung werden immer wieder in unverhĂ€ltnismĂ€ssiger Weise eingeschrĂ€nkt. Menschenrechtsverletzungen wie willkĂŒrliche Festnahmen und Inhaftierungen, Folter, Misshandlungen und sogar Tötungen gehören in Afghanistan wieder zum Alltag. Viele Personengruppen befĂŒrchten, unter dem Taliban-Regime verfolgt oder missbraucht zu werden; Hunderttausende haben seither das Land verlassen.
WĂ€hrend sich die Aufmerksamkeit in Europa, einschlieĂlich der Schweiz, weitgehend auf die Situation der aus der Ukraine geflĂŒchteten Menschen konzentriert, darf die Lage von Millionen von Menschen in Afghanistan nicht vergessen werden. Einige LĂ€nder reagieren darauf, wie DĂ€nemark, das am 30. Januar 2023 beschloss, afghanischen Frauen und MĂ€dchen aufgrund ihres Geschlechts systematisch Asyl zu gewĂ€hren, da sich ihre Lebensbedingungen in Afghanistan immer weiter verschlechtert haben. Die Menschen flĂŒchten vor allem in den Iran und nach Pakistan, nur eine Minderheit in die Schweiz, vor allem, weil die Schweiz keinen legalen und sicheren Weg fĂŒr die schutzsuchenden Afghaninnen und Afghanen bietet. HumanitĂ€re Visa werden von der Schweiz seit der MachtĂŒbernahme der Taliban nur sehr restriktiv ausgestellt. In Anbetracht der Entwicklungen in Afghanistan sollte die Schweiz die Erteilung von humanitĂ€ren Visa fĂŒr sĂ€mtliche gefĂ€hrdeten Afghaninnen und Afghanen erleichtern und beschleunigen. Angesichts der noch nie dagewesenen humanitĂ€ren Krise in Afghanistan ist die restriktive Praxis des SEM nicht lĂ€nger haltbar.