Konflikt Polen-Belarus: Es braucht eine Verteilung der Geflüchteten auf die EU-Staaten

19. November 2021

Tausende Geflüchteter harren seit Wochen im polnisch-belarussischen Grenzgebiet aus, Polen macht die Grenzen dicht. Einmal mehr verteidigt die EU ihre Aussengrenze mit aller Härte, verschliesst sich ihrer Verantwortung in der Asyl- und Flüchtlingspolitik. Dabei würde die Verteilung der Geflüchteten auf die EU dem belarussischen Machthaber Lukaschenko den Wind aus den Segeln nehmen. Auch die Schweiz müsste hier mitmachen.

Oliver Lüthi, Abteilungsleiter Kommunikation

Die Bilder von der polnisch-belarussischen Grenze machen betroffen: Tausende von Geflüchteten, die in notdürftigen Zelten leben, sich um kleine Feuerstellen scharen, um der klirrenden Kälte entgegenzuwirken und von ihren verbleibenden Nahrungsmitteln zehren. Diejenigen, die es auf die polnische Seite geschafft haben, irren durch die Wälder und verstecken sich. Polen lässt offiziell keine Hilfsorganisationen ins Grenzgebiet. Die wenigen lokalen Helfer, welche trotzdem mit Geflüchteten in Kontakt kommen konnten, sprechen von erschreckenden Bildern: Von schwachen, ausgezehrten und frierenden Menschen, welche, werden sie entdeckt, sofort nach Belarus zurückgeschafft werden.

Polen reagiert mit Gewalt

Seit Mitte Jahr schon kommen Gruppen von Geflüchteten an der polnisch-belarussischen Grenze an. Organisiert vom belarussischen Autokraten Alexander Lukaschenko, welcher damit die EU unter Druck setzen will. Im November hat sich die Lage dramatisch verschärft. Inzwischen sind es Tausende von Geflüchteten, welche im Grenzgebiet verharren, eingekesselt zwischen belarussischen Sicherheitskräften und polnischen Grenzzäunen. Versuche, die Grenze nach Polen zu überschreiten, werden von den dortigen Sicherheitskräften mit Gewalt, mit illegalen Pushbacks, unterdrückt. Polen verweist dabei auf das Recht, seine Grenzen zu schützen, eifrig unterstützt von Exponentinnen und Exponenten der Europäischen Union. So deutete EU-Ratspräsident Charles Michel kürzlich die Möglichkeit an, die Errichtung von Grenzzäunen aus EU-Mitteln zu finanzieren. Es ist offensichtlich: Am Rande Europas wird ein politischer Konflikt auf dem Rücken geflüchteter und notleidender Menschen ausgetragen, und die EU ist wieder mal dabei, ihre humanitären Werte zu verraten.

Es ist nicht das erste Mal, dass die EU mit Härte gegen Geflüchtete an seiner Aussengrenze vorgeht. Dies ist in den letzten Jahren vielmehr zur Norm geworden. Seit den grossen Fluchtbewegungen in den Jahren 2015 und 2016 forciert die EU gezielt eine rigorose Politik der Abschreckung und Abschottung. Sie versperrt Schutzsuchenden sichere Fluchtwege, paktiert mit Despoten und nimmt Menschenrechtsverletzungen billigend in Kauf. An der EU-Aussengrenze kommt es regelmässig zu illegalen Pushbacks. Bereits seit den 1990er-Jahren gibt es Versuche, die europäische Asyl- und Migrationspolitik zu vereinheitlichen und an Grundwerten auszurichten. Einheitlichkeit besteht aber bisher nur bei den Abschreckungsmassnahmen. Auch der neue EU-Pakt zu Migration und Asyl, 2020 mit grossem Brimborium angekündigt, wird daran nichts ändern.

Kein Zugang für unabhängige Beobachter

Und nun werden also an der polnischen Grenze Grundrechte verletzt: Das Recht, einen Asylantrag zu stellen. Das Prinzip des Non-Refoulement. Der Zugang ins Grenzgebiet ist unabhängigen Beobachtern, Medienschaffenden und Hilfsorganisationen untersagt. Polen hat kürzlich ein Gesetz verabschiedet, welches Pushbacks legalisieren soll. Auch Litauen, an dessen Grenze zu Belarus sich ebenfalls Geflüchtete befinden, hat entsprechende Gesetzesänderungen vorgenommen. Aufrufe der EU-Innenkommissarin Ylva Johansson, diese Bestimmungen wieder zurückzunehmen, laufen bisher ins Leere.

Deeskalation mittels kontrollierter Grenzöffnung

Dabei könnte mit einer kontrollierten Grenzöffnung dem Vorgehen Alexander Lukaschenkos der Wind aus den Segeln genommen werden. Dessen Versuch, die EU als gewissenlose Staatengemeinschaft erscheinen zu lassen, würde ins Leere laufen. Eine kontrollierte Grenzöffnung würde auch kaum zu einem sogenannten Pull-Effekt führen. Belarus befindet sich nicht auf den üblichen Routen von Geflüchteten. Ohne die Visaerleichterungen Belarus’ und die Zusammenarbeit mit anderen Machthabern dürfte es kaum mehr zu Fluchtbewegungen über Belarus und Polen kommen.

Verteilung der Geflüchteten auf EU-Staaten

Die EU sollte deshalb eine Lösung mit Polen anstreben. Vordringlich ist dabei, Hilfsorganisationen und Mitarbeitende lokaler Unterstützungsgruppen ins Grenzgebiet zu lassen. Die Geflüchteten sind mit den nötigsten Mitteln zu versorgen, mit Zelten, Nahrung und Medikamenten. Sodann braucht es eine geregelte Registrierung der Geflüchteten. Zur Überprüfung der menschenrechtlichen Situation sind unabhängige Beobachter und Journalistinnen ins Grenzgebiet zu lassen. Polen sollte problemlos über genügend eigene Mittel verfügen, um den Geflüchteten ein faires Verfahren zu ermöglichen. Nichtsdestotrotz soll die EU Polen in diesem Prozess unterstützen. Die entsprechende Unterstützung könnte dazu beitragen, Polen in eine gemeinsame, stärker an den Grundwerten ausgerichtete europäische Asylpolitik einzubinden, nachdem das Land in den letzten Jahren vor allem durch seine harte Haltung in der Flüchtlingspolitik aufgefallen ist. Dies bedeutet aber auch, dass die EU Polen mit der Flüchtlingssituation nicht allein lassen darf. Konkret heisst das, dass die EU, sind die Geflüchteten einmal in Polen registriert, deren Verteilung auf andere EU-Staaten anstreben sollte, damit sie dort ein faires Asylverfahren erhalten. Bei einer Einwohnerzahl von knapp 450 Millionen Menschen wäre es für die EU problemlos möglich, mit den Anträgen einiger Tausend Geflüchteter umzugehen.

Auch die Schweiz hat eine aktive Rolle zu spielen

Auch die Schweiz hat hier eine aktive Rolle zu spielen. Über Schengen/Dublin ist sie eng in die europäische Migrationspolitik eingebunden. Sie soll sich deshalb mit Nachdruck für die Einhaltung der Menschenrechte und des Völkerrechts an der polnisch-belarussischen Grenze einsetzen. Hierzu gehört insbesondere das Recht, in einen Staat einzureisen und dort ein Asylgesuch zu stellen. Um Asyl zu ersuchen ist ein Menschenrecht. Es gilt für alle Personen, unabhängig davon, wie und aus welchen Gründen sie eingereist sind. Auch an einem allfälligen Relocation-Mechanismus könnte sich die Schweiz beteiligen. Die aktuellen Asylgesuchszahlen in der Schweiz sind tief, die Aufnahme einer Gruppe Geflüchteter wäre problemlos verkraftbar.

Die europäische Asylpolitik steht also wieder mal auf dem Prüfstand. Die EU, und mit ihr die Schweiz, haben nun schnell zu reagieren. Die Zeit drängt, an der polnisch-belarussischen Grenze sinken die Temperaturen im Winter auf minus 20 Grad. Die Situation ist eine Gelegenheit für die EU, sich ihrer humanitären Werte bewusst zu werden. Ansonsten wird sie das Bild der gefühlskalten Staatengemeinschaft, welche in der Flüchtlingspolitik kaum Rücksicht auf Grundrechte nimmt, nur weiter zementieren.

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