Flucht ist weder männlich noch weiblich – sondern menschlich

29. Juli 2022

Der überwiegende Teil der Menschen, die aus der Ukraine fliehen, sind Frauen und Kinder. Warum? Und warum fliehen aus anderen Ländern überwiegend junge Männer? Warum kämpfen diese Männer nicht für ihr Land, wie die Ukrainer? Diese Fragen wurden in der öffentlichen Diskussion der letzten Monate mehrfach aufgeworfen. Damit einher geht der implizite Vorwurf, dass Männer aus anderen Ländern aus unberechtigten Gründen fliehen und ihr Land im Stich lassen. Das ist eine falsche Interpretation der Fakten. Die Realität ist komplexer.

Seraina Nufer, Co-Abteilungsleiterin Protection

Von den erwachsenen Menschen, die aus der Ukraine in die Schweiz geflüchtet sind und vorübergehenden Schutz beantragt haben, sind gemäss SEM-Statistik 76 Prozent Frauen und 24 Prozent Männer. Demgegenüber sind unter den Erwachsenen im Asylverfahren – also den Schutzsuchenden aus anderen Herkunftsländern – 74 Prozent Männer und 26 Prozent Frauen.

Kein repräsentatives Bild: Weltweit sind gleich viele Frauen wie Männer auf der Flucht

Weltweit sind die Geschlechterverhältnisse hingegen ausgeglichen: gemäss UNHCR sind 51 Prozent der zwangsweise vertriebenen Erwachsenen weltweit männlich, 49 Prozent weiblich. Die Perspektive aus der Schweiz bzw. Europa ist also nicht allgemeingültig. Warum gestalten sich die Verhältnisse hier anders als weltweit? Dazu gibt es keinen einzelnen erklärenden Grund. Verschiedene Faktoren beeinflussen, wer wohin flüchtet. Hier sollen zwei davon erläutert werden:

Flucht ist gefährlich: Da es kaum sichere und legale Fluchtwege gibt, müssen die Betroffenen ihr Leib und Leben aufs Spiel setzen, um in ein sicheres Land zu gelangen. In einem ersten Schritt flüchten Familien vor Bürgerkriegen oft gemeinsam in ein Nachbarland. Dort sind sie für den Moment sicherer als in der Heimat, finden dort aber oft keine längerfristige Perspektive. Für Frauen besteht ein sehr hohes Risiko, auf dem Fluchtweg Opfer von sexueller Gewalt zu werden. Deshalb entscheiden viele Familienväter, die weiterführende Fluchtroute selber auf sich zu nehmen. Dies mit dem Ziel, Frau und Kinder nachzuziehen, wenn sie an einem sicheren Ort angekommen sind. Insbesondere die gefährliche Flucht auf einem Boot übers Mittelmeer nehmen eher Männer alleine auf sich, während auf dem Landweg häufiger auch Familien und Frauen in männlicher Begleitung unterwegs sind. Unter den Schutzsuchenden, die über die Türkei nach Griechenland flüchten, ist gemäss einer Studie der Weltbank von 2019 ein höherer Anteil an Frauen und Kindern, als über die gefährlichere Mittelmeerroute von Libyen nach Italien. Während der Grossteil der Geflüchteten, die in Griechenland ankommen, aus Afghanistan, Syrien und Irak stammt, kommt ein grosser Teil der Menschen, die über Libyen nach Italien gelangen, aus Subsahara-Afrika. Die geografische Lage und Route sind also mitentscheidend, wer wohin flüchtet. Wenn Menschen aus Subsahara-Afrika eher über das zentrale Mittelmeer und Italien nach Europa gelangen, führt das dazu, dass der Männeranteil unter ihnen höher ist, als der Männeranteil unter Geflüchteten aus Afghanistan, Syrien und Irak, die eher via Griechenland nach Europa kommen. Die Geschlechterverhältnisse sind damit auch unterschiedlich je nach Herkunftsländern. Anders als aus anderen Herkunftsregionen ist die Flucht aus der Ukraine in die Schweiz legal und ungleich einfacher und sicherer und damit auch für Frauen und Kinder eher möglich.

Flucht ist zudem teuer: Das praktische Fehlen legaler Fluchtwege bedeutet auch, dass die meisten Menschen, die vor Verfolgung, Krieg und Gewalt flüchten, auf teure Schlepper angewiesen sind, um Zuflucht in einem sicheren Land zu finden. Eine Reise innerhalb des Landes oder in den Nachbarstaat ist allenfalls noch für eine ganze Familie finanzierbar. Für eine (Weiter-)Reise ins weit entfernte Europa und die Schweiz reicht das Geld jedoch oft nur für eine Person und nicht für eine ganze Familie. Wenn das Geld nur für jemanden reicht, entscheidet sich die Familie für die Person mit den grössten Chancen, das Ziel lebend und möglichst unversehrt zu erreichen. Wie zuvor beschrieben, sind das in der Regel die Männer.

Warum verlassen Männer ihr Land, anstatt dafür zu kämpfen?

Auch auf diese Frage gibt es keine einfache und allgemeingültige Antwort, sondern verschiedene Umstände, die es zu berücksichtigen gilt. «Klassische» Kriege zwischen zwei Staaten sind mittlerweile selten. Viel häufiger sind Bürgerkriege innerhalb eines Landes. Oft sind verschiedene Gruppierungen involviert, und häufig ziehen sich die Konflikte über Jahrzehnte hinweg. Die Fronten sind hier also viel weniger klar als bei einem üblichen Angriffskrieg. Es stellen sich legitime Fragen: Was heisst es in einem solchen Kontext überhaupt, «für sein Land zu kämpfen»? Will man innerhalb des Bürgerkriegs Partei ergreifen? Will man gegen die eigene Bevölkerung, gegen eigene Bekannte oder Nachbarn kämpfen?

Männer sind stärker als Frauen von Wehrdienstpflicht betroffen: viele flĂĽchten aufgrund rechtsstaatlich nicht mehr haltbarem, unverhältnismässigem Wehrdienst und suchen Schutz in anderen Ländern. Dies betrifft junge Männer aus BĂĽrgerkriegsländern wie etwa Afghanistan oder Syrien, aber auch aus Diktaturen wie Eritrea. Die Zustände im Wehrdienst dieser Länder ist nicht vergleichbar mit einer rechtsstaatlich legitimen Wehrpflicht, wie wir sie aus der Schweiz kennen. Die Republik schilderte im März dieses Jahres eindrĂĽcklich die desolaten Zustände in der afghanischen Armee: während 20 Jahren leisteten junge Männer, häufig aus armen Familien, in einer brutalen und korrupten Institution wochen- oder monatelange Einsätze unter permanenter Lebensgefahr, meist ohne genĂĽgend Munition, ohne regelmässige Mahlzeiten und ohne Sold. Zehntausende von ihnen starben in dieser Zeit. Gemäss SFH-Länderanalyse werden seit der MachtĂĽbernahme durch die Taliban im August 2021 Angehörige der Sicherheitskräfte des ehemaligen Regimes als Bedrohung angesehen; mindestens 130 von ihnen wurden getötet. Kämpfer der Nationalen Befreiungsfront werden exekutiert, Zivilpersonen mit vermeintlichen Verbindungen festgenommen und gefoltert. 

In Eritrea werden Männer, Frauen und manchmal sogar Kinder in den Nationaldienst mit unbegrenzter Dauer zwangsrekrutiert und dort schweren Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt. Deserteur*innen und Wehrdienstverweigernde werden inhaftiert und gefoltert. In Syrien mussten in den Militärdienst eingezogene Männer als Teil des brutalen Assad-Regimes gegen die eigene Bevölkerung kämpfen und sich Gräueltaten schuldig machen. Der Europäische Gerichtshof hat darauf im November 2020 bestätigt, dass die Verweigerung von Wehrdienst, der völkerrechtswidrige Handlungen umfasst, als Asylgrund gilt.

Wer wĂĽrde nicht gehen?

In Bezug auf den Krieg in der Ukraine hat die Wehrpflicht die umgekehrte Auswirkung auf die Geschlechterverhältnisse der Geflüchteten. Dies ist bedingt durch die ukrainische Rechtslage: Ukrainer im wehrdienstpflichtigen Alter dürfen die Ukraine gar nicht verlassen. Es ist zumindest nicht auszuschliessen, dass manche von ihnen es tun würden, wenn sie könnten – je länger der Krieg andauert und je unhaltbarer die Zustände werden.

Jeder Mensch – sei es Mann, Frau oder Kind – hat das Recht, in einem anderen Land Schutz vor Verfolgung zu suchen. Die Umstände, aus denen Menschen flüchten, sind oft äusserst komplex. Es ist nicht möglich, auf einen Blick zu beurteilen, ob jemand schutzbedürftig ist im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention und den menschenrechtlichen Vorgaben. Aus diesem Grund gibt es ein Asylverfahren, in welchem Fachpersonen sorgfältig und individuell prüfen, ob jemand Schutz braucht oder nicht. Ohne die Hintergründe jedes einzelnen Schutzsuchenden zu kennen, ist es nichts anderes als anmassend, Schutzsuchenden vorzuwerfen, ihr Heimatland in ungerechtfertigter Weise im Stich gelassen zu haben.

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