Von der SFH-Länderanalyse
Anwältinnen und Anwälte sowie Rechtsgelehrte haben sich jüngst im Herbst 2019 gegenüber der SFH besorgt geäussert über die rasante negative Entwicklung des Rechtsstaats in der Türkei. Die türkische Regierung nimmt zunehmend Einfluss auf die Justiz. Mit der Verfassungsreform 2017 sicherte sich Präsident Recep Tayyip Erdoğan ausreichend Macht über das Gremium, welches Richterinnen und Richter ernennt und entlässt. Seit dem Putschversuch vom Juli 2016 wurden rund 4000 Richterinnen und Richter wegen Terrorverdacht entlassen. Unter den Justizangestellten herrscht Angst. Rasch wird man selber zur Zielscheibe und muss mit Strafverfolgung rechnen, wenn man sich nicht entsprechend der aktuellen Regierungsdoktrin verhält. Die entlassenen Richterinnen und Richter wurden mit neuem Personal ersetzt. Oft handelt es sich dabei um junge und unerfahrene Personen, die sich vor allem durch die «richtige» Mitgliedschaft in der Regierungspartei qualifizieren. Die neue staatsgenehme Justizgeneration kommt jetzt auch bei wichtigen Gerichtsverfahren zum Einsatz. Eine Rechtsanwältin in Istanbul sagte der SFH: «Menschen mit sehr wenig Erfahrung fällen jetzt wichtige Urteile. Es geht nicht nur um ihre Berufserfahrung. Diese Richterinnen und Richter fühlen sich nicht frei, gegen den Staat zu urteilen. Sie könnten entlassen werden, wenn sie dies tun.»
«Es gibt keinen Rechtsstaat mehr in der Türkei»
Das International Press Institute sowie die türkische NGO Media and Law Studies Association beobachteten 2018 rund 90 Gerichtsverhandlungen gegen türkische Medienschaffende. Sie stellten fest, dass türkische Gerichte in den Verhandlungen systematisch die Verfassung, nationale Gesetze, internationale Konventionen sowie die Entscheide internationaler Gerichte ignorierten. Der türkische Rechtsanwalt Veysel Ok, der in der Türkei bekannte Persönlichkeiten wie Mehmet Altan und Deniz Yücel in Strafverfahren vertritt, sagte im Juli 2018 an einer Veranstaltung in Konstanz: «Es gibt keinen Rechtsstaat mehr in der Türkei. Die Richter dürfen in diesem Land die Grundrechte nicht anwenden».
Angst vor der Willkür
Die SFH ist sehr besorgt über den Zustand des Rechtsstaats in der Türkei. Die fehlende Rechtsstaatlichkeit verunsichert und ängstigt regierungskritische Personen in der Türkei. Regierungsnahe Täterinnen und Täter bleiben straflos und es herrscht grosse Willkür bei der Strafverfolgung. Das Risiko, in das Visier der türkischen Strafverfolgungsbehörden zu geraten, ist so für viele Menschen in der Türkei allgegenwärtig. Ein türkischer Menschenrechtsaktivist und Journalist berichtete der SFH im Oktober 2019 erschüttert: «Was mich zurzeit in der Türkei am stärksten beunruhigt? Der abnehmende Respekt vor dem Gesetz und dem rechtstaatlichen Verfahren. In einem Land zu leben, in dem die Gerichte nicht dem Gesetz gehorchen, ist sehr beängstigend. Das gilt sowohl für Menschen mit meinem Beruf wie auch für Menschen mit jeglichen anderen Berufen.»