Mit der Verfügung wird der Vollzug der Rückführung des abgelehnten Asylsuchenden vorläufig gestoppt. Der EGMR nimmt darin Bezug auf die Entwicklung der Sicherheitssituation in Afghanistan und fragt die österreichischen Behörden, ob im Fall einer Rückführung eine Gefährdung der betreffenden Person im Sinne von Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (Folter, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung) besteht.
Die Massnahme des EGMR trägt der sich fortlaufend verschlechternden Sicherheitssituation in Afghanistan Rechnung. Nach dem Rückzug der amerikanischen Truppen fordern Konflikte immer mehr zivile Opfer. Wie die UNO-Mission in Afghanistan am Dienstag auf Twitter mitteilte, sollen bei Gefechten in der Provinzhauptstadt Lashkargah im Süden Afghanistans binnen 24 Stunden mindestens 40 Zivilisten getötet und 118 verletzt worden sein. Die Hauptstadt Kabul wurde gleichentags von einer heftigen Explosion erschüttert, der mehrere kleine folgten. Mindestens 13 Personen wurden getötet und mindestens 20 verletzt, wie die gleiche Quelle berichtet. Seit Beginn der Offensive der Taliban hat sich die Zahl der von diesen kontrollierten Bezirke von 73 auf 221 mehr als verdreifacht.
Angesichts der äusserst problematischen Sicherheitslage akzeptiert die für Rückführungen zuständige afghanische Behörde, das «Afghan Ministry of Refugees and Repatriation», seit Anfang Juli keine zwangsweisen Rückführungen nach Afghanistan mehr. Finnland, Schweden und Norwegen haben inzwischen sämtliche Rückführungen nach Afghanistan gestoppt. Zudem stoppte gemäss einer Nachricht der österreichischen Zeitung «Der Standard» die EU-Grenzschutzagentur Frontex die Abwicklung von Abschiebeflügen nach Afghanistan. Letzteres entsprach der Forderung eines Appells des Europäischen Flüchtlingsrates ECRE von vergangener Woche. Die Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH) hatte den Appell mitunterzeichnet.
Die SFH hatte in den vergangenen Wochen immer wieder auf die sich verschlechternde Sicherheitslage in Afghanistan hingewiesen und fordert seit Jahren, auf die Rückführung von abgewiesenen Asylsuchenden dorthin zu verzichten. Derweil sind die Schweizer Behörden der Ansicht, dass eine Wegweisung in bestimmte Gebiete Afghanistans weiterhin zumutbar ist, sofern die betroffenen Personen dort über ein soziales und familiäres Netzwerk verfügen. Angesichts der jüngsten Entwicklungen in Afghanistan ist die aktuelle Praxis der Schweiz aus Sicht der SFH allerdings mehr denn je unhaltbar.