Ohne Smartphone kein Kontakt. Es ist das wichtigste Gerät im Leben der meisten Afghaninnen und Afghanen ausserhalb ihrer Heimat. Gleichzeitig sei dieses Gerät ein Albtraum, seufzt der 21jährige Fahim*. «Ich weiss oft nicht mehr, wo mir der Kopf steht. Wenn ich nicht arbeite, dann hänge ich am Telefon oder an den Messenger-Diensten. Seit zwei Wochen weiss ich nicht mehr, wo meine Eltern und meine kleine Schwester sind.» Sein minderjähriger Bruder versteckt sich aktuell im Iran, nachdem die Familie vor zwei Wochen getrennt wurde, als sie mit einer Gruppe versuchte, die Grenze zum Iran zu überschreiten. Die iranischen Grenzzöllner hätten auf die Flüchtenden geschossen, berichtet Fahim. In der Panik seien alle weggerannt oder hätten sich irgendwo versteckt. Der kleine Bruder sei schliesslich alleine im pakistanischen Grenzland herumgeirrt. «Als er wieder WiFi-Empfang hatte, rief er mich an», erzählt Fahim. «Er weinte und hatte grosse Angst. Ich konnte organisieren, dass ihn ein afghanischer Freund aus Teheran zu sich holte. Dort ist er für einen Moment sicher, aber er traut sich nicht auf die Strasse. Ohne Ausweispapiere schaffen ihn die iranischen Behörden entweder wieder zurück nach Afghanistan oder ziehen in ein für den Syrienkrieg.» Fahim hat sich beim Schweizerischen Roten Kreuz (SRK) und bei der Schweizerischen Flüchtlingshilfe (SFH) über die Möglichkeiten für ein Humanitäres Visum informiert und steht nun direkt in Kontakt mit der Schweizer Vertretung in Teheran. Wird der Bruder nach Afghanistan zurückgeschickt, dann sei sein Leben massiv in Gefahr, ist Fahim überzeugt: «Mein Vater hat mich und meinen Bruder minderjährig auf die Flucht geschickt, weil uns sonst die Taliban zwangsrekrutiert hätten. Seither wurden meine Eltern immer wieder bedroht, seit dem Machtwechsel sind sie untergetaucht. Sie werden von den Taliban als ungläubige Verräter eingestuft, die zwei Söhne in den Westen geschickt haben.»
Mehr als Ablenkung
Auf Fahims jungen Schultern lastet jetzt viel Verantwortung. «Ich möchte meine Familie retten, das ist im Moment das Wichtigste. Trotzdem ist meine Zukunft hier in meiner neuen Heimat Schweiz», sagt er bestimmt. «Ich darf und will meine Arbeit und meine Zukunftspläne nicht vernachlässigen». Von Montag bis Freitag montiert er Türen und Fenster, fährt jeden Tag oft sehr früh zur Baustelle, pünktlich und zuverlässig. Dann bleibt das Handy abgestellt bis zu den kurzen Pausen während der Arbeit. Nur nach Feierabend und an den Wochenenden bleibt Zeit, um den quälenden Fragen nachzugehen: Wo sind meine Angehörigen? Wie geht es ihnen? Welche Chance habe ich, meine Eltern und Geschwister in die sichere Schweiz zu holen?
2015 kam Fahim minderjährig zusammen mit seinem Bruder in die Schweiz. Er, der in seinem Heimatdorf nur ein paar Jahre die Koranschule besucht hatte, erreichte bereits nach dem zweiten berufsvorbereitenden Schuljahr das Deutschniveau B1. Er bestand auch gleich die Prüfung für die Lehre an einer kantonalen technischen Fachschule. Diesen Juni war die Freude und der Stolz auch seines Lehrmeisters gross, als er seine zweijährige berufliche Grundbildung mit eidgenössischem Berufsattest (EBA) als Metallbaupraktiker mit Bravour bestand. Seit Juli hat er eine Vollzeitstelle mit unbefristetem Arbeitsvertrag und hat sich von der Asylsozialhilfe abgemeldet. «Ich bin dankbar für den tollen Job, es ist mehr als Ablenkung. Mit gefällt der Metallbau sehr, die vielseitigen Arbeiten, das Schweissen, die Kollegialität unter den Handwerkern.» Eine Festanstellung, obwohl er nur über eine vorläufige Aufnahme (F-Ausweis, Ausländer) verfügt, das sei eine grosse Chance, die er nicht aufs Spiel setzen möchte. Gerade hat er ein Härtefallgesuch für eine B-Bewilligung eingereicht: «Für mich ist es in der aktuellen Situation sehr wichtig, dass auch mein Aufenthaltsstatus in der Schweiz langfristig geregelt und gesichert ist, damit ich hier weiter ein gutes Leben aufbauen und ich mich noch besser integrieren kann», schreibt er im Gesuch.
7800 Anfragen, drei positive Einschätzungen
7'800 Anfragen von besorgten Afghaninnen und Afghanen sind zur Vorprüfung für ein Gesuch für ein humanitäres Visum beim Staatssekretariat für Migration (SEM) eingegangen, berichteten die Medien im Oktober. Das SEM prüft nur, ob eine Anfrage eine Chance hat. Nur wenn die strengen Kriterien für ein humanitäres Visum oder einen Familiennachzug erfüllt sind, macht ein entsprechendes Gesuch an eine Schweizer Vertretung in einem Nachbarstaat Sinn. Die SFH begrüsst diese Möglichkeit, weil die Flucht zu einer Schweizer Auslandvertretung in einem Nachbarstaat für gefährdete Personen in Afghanistan sehr riskant ist. Doch die Auswertung der Anfragen führt zu ernüchternden Ergebnissen. Nur drei Anfragen wurden bisher mit einer positiven Einschätzung beantwortet: Einmal positiv im Falle eines humanitären Visums und zweimal positiv für einen Familiennachzug. Warum eine so tiefe Quote? Die Bedingungen für ein humanitäres Visum sind nach wie vor sehr streng: Neben einem engen und aktuellen Bezug zur Schweiz muss die betroffene Person wegen der Lage in Afghanistan individuell und unmittelbar lebensbedrohlich gefährdet sein. Allein die Zuordnung zu einer möglicherweise gefährdeten Gruppe wie ehemalige Regierungsbeamte, Minderheiten wie die Hazara, Journalistinnen, Aktivisten oder Rückkehrende aus dem Westen reicht aus Sicht einer Schweizer Auslandvertretung nicht aus. Dazu kommt, dass die Gefährdung wie der Bezug zur Schweiz mit offiziellen Dokumenten und Unterlagen nachgewiesen werden muss. Fahim muss zum Beispiel Geburtsscheine seines Bruders und Auszüge aus dem afghanischen Familienregister beschaffen, um die Verwandtschaft zu belegen – bloss wie? «Es gibt keine funktionierende Verwaltung in Afghanistan, ausserdem wäre ein direkter Kontakt zu den Machthabern wirklich viel zu gefährlich», sagt der junge Mann. «Vielleicht hilft ein Bluttest weiter? Ich werde auf jeden Fall alles versuchen, was von hier aus möglich ist.»
Fahims Bruder wie auch seine Familie sind aus Sicht der Schweiz zu wenig gefährdet für ein humanitäres Visum. Ein Familiennachzug ist der Kernfamilie (Ehepartner und minderjährige Kinder) vorbehalten. Und so geht es Fahim wie den 7799 anderen Afghaninnen und Afghanen, die ihre Angehörigen kaum auf legalem Weg aus Afghanistan retten können. Sie harren aus, bleiben tapfer, suchen gemeinsam über ihre erprobten Diasporanetze weiter nach ihren Angehörigen, unterstützen sie mit Geld. «Meine Hoffnung ist, dass die Menschen überall verstehen, dass wir alle gleich sind und dass Krieg nichts mit Religion und Gott zu tun hat, sondern nur mit Macht und Geld», hat Fahim seinen Mitschülern Ende Juni bei der Abschlusspräsentation in der Berufsschule gesagt. Zwei Monate später nahm die religiös motivierte Macht in seiner Heimat Überhand.
*Name der Redaktion bekannt