Die Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH) hat sich in der Vergangenheit schon mehrfach kritisch zu den Herkunftsabklärungen durch die LINGUA-Analysten geäussert. Nun hat eine von der Universität Bern international zusammengestellte Expertengruppe die LINGUA-Analyse einer vom SEM beauftragten Fachperson untersucht, die jeweils für die tibetischen Asylsuchenden zuständig ist. Die vier Expertinnen und Experten beurteilen die geprüfte LINGUA-Analyse als absolut ungenügend. Der SFH sind zudem mehrere Rechtsvertretungen bekannt, die sich ebenfalls kritisch geäussert haben zu LINGUA-Analysen der betreffenden Fachperson. Die SFH begrüsst daher die Prüfung durch eine unabhängige Expertengruppe und fordert das SEM auf, die fachliche Qualität, Objektivität und Neutralität der unter Vertrag stehenden LINGUA-Analystinnen und -analysten gestützt auf diese externe Prüfung neu zu beurteilen und entsprechende Konsequenzen zu ziehen. Falls sich zeigt, dass die fachliche Qualität, Objektivität und Neutralität einzelner LINGUA-Mitarbeitenden nicht gegeben ist, sind alle Verfahren, in denen ein Negativentscheid gestützt auf eine Analyse durch die entsprechenden LINGUA-Mitarbeitenden erfolgte, vom SEM von Amtes wegen in Wiedererwägung zu ziehen. Zudem sollten die LINGUA-Analysen vollständig offen gelegt werden unter Schwärzung der geheim zuhaltenden Informationen.
Das Thema ist jüngst in der NZZ am Sonntag und le Temps aufgegriffen worden; die Tibetische Sans-Papiers-Gemeinschaft Schweiz fordert mit einer Petition Bundesrätin Karin Keller-Sutter (EJPD) und das SEM unter anderem zur Legalisierung aller Aufenthaltstitel der abgelehnten tibetischen Asylsuchenden auf.
Neue Praxis fördert Sans-Papiers
Wenn eine Person tibetischer Ethnie nicht glaubhaft machen kann, dass sie in Tibet/China sozialisiert wird, wird ihr Asylgesuch wegen «Verheimlichung der Herkunft» abgelehnt und sie bleibt als Sans-Papiers in der Schweiz. In der Praxis wird bei fast allen Tibeterinnen und Tibetern, die keine Identitätskarte einreichen können, eine LINGUA-Analyse in Auftrag gegeben. Oft wird darin festgehalten, dass die Sozialisierung in Tibet nicht wahrscheinlich sei und die Person in einer Exilgemeinde sozialisiert worden sei. Das SEM stellt zwar fest, dass die Person nicht nach China weggewiesen werden darf, weil ihr dort Verfolgung droht, lässt aber offen, ob die Person vielleicht nach Indien oder Nepal weggewiesen werden könnte. Es wird also eine Wegweisungsverfügung erlassen, aber nicht präzisiert, wohin die Person ausgewiesen werden soll. Betroffene leben dann jahrelang als Sans-Papiers in der Schweiz, da sie nicht ausgeschafft werden können und die Behörden auch keine Härtefallgesuche von ihnen akzeptieren, weil sie angeblich ihre Identität verheimlichen.
Aus Sicht der SFH sollte erneut die frühere Praxis gelten, wonach selbst bei umstrittenem Sozialisierungsort von Tibeterinnen und Tibetern die Flüchtlingseigenschaft gewährt wird. Es ist davon auszugehen, dass sie nicht eine andere Staatsbürgerschaft erworben haben. Tibeterinnen und Tibeter, die sich im Exil und insbesondere in einem für die Tibeter Exilgemeinde bedeutsamen Land wie der Schweiz aufgehalten haben, droht in China Verfolgung, weil sie von den chinesischen Behörden verdächtigt werden, oppositionelle Ansichten zu vertreten.