12.40 Franken pro Tag müssen für Essen, Kleidung, Hygiene und Mobilität genügen. «Das gibt im Monat ungefähr 370 Franken. Die Monate mit 31 Tagen sind mir sympathischer, als zum Beispiel der Februar», sagt O.H. der anonym zu bleiben wünscht. Ein feines Lächeln erhellt kurz sein ernstes Gesicht. Die erlittene Gewalt in seiner Heimat und die schreckliche Flucht aus Somalia über Libyen und das Mittelmeer haben Spuren hinterlassen. Aber auch die grosse Sorge und Verantwortung, die er jetzt in der sicheren Schweiz für seine leidende Familie in Somalia trägt, plagen O.H. Zweimal im Monat ruft er seine vier Schwestern und die zwei kranken Brüder an. Noch lieber würde er ihnen jeden Monat einen Teil seines Lohnes überweisen. «Eine Arbeit mit F-Ausweis zu finden, das ist sehr schwer», erklärt O.H. «Seit März 2020 bin ich vorläufig aufgenommen. Ich habe schon sehr viele Bewerbungen geschrieben. Reinigungs-, Verpackungs- und Recyclingfirmen oder Auslieferdienste habe ich angerufen, bin persönlich an Ort und Stelle vorbei – ohne Erfolg». Eine Speditionsfirma würde ihn sofort auf Abruf im Stundenlohn einstellen, hätte er denn einen Führerschein. Theorie und Nothelferkurs hat er bereits gemacht, aber die praktische Prüfung übersteigt seine Finanzen. Er zeigt den Kostenvoranschlag einer Autofahrschule von über 2‘000 Franken, Verkehrskurs und Prüfung inbegriffen. «Was kann ich tun? Ich möchte bloss eine Arbeit finden, keine Sozialhilfe beziehen müssen und ein ruhiges Leben in Frieden und Freiheit führen, nicht mehr und nicht weniger».

Jeder beutet jeden aus
O.H. ist 1980 in Jameeco, einem kleinen Dorf nahe der Distrikthauptstadt Buuloburte geboren, im Herzen Somalias, wie er sagt. «Wegen der Dürre sind 1989 alle unsere Tiere verdurstet und wir mussten flüchten», berichtet O.H. «Ein Jahr später, als ich zehn Jahre alt war, kam der Krieg in unsere Gegend, alles wurde geplündert und zerstört». Hunger und Armut nahmen wegen der Kampfhandlungen zu, es folgte mit dem Sturz von Siad Barre 1991 der somalische Bürgerkrieg. Seither sind knapp 4 Millionen Somalierinnen und Somalier abhängig von humanitärer Hilfe, die Hälfte der Bevölkerung. Über eine Million versucht als intern Vertriebene zu überleben, Hunderttausende sind in die Flüchtlingslager der Nachbarstaaten Kenia und Äthiopien geflohen. Einigen Wenigen gelang so wie O.H. die lebensgefährliche Flucht nach Europa: «In Somalia gibt es keine funktionierende Regierung mehr. Terrormilizen, Clans und Militärs regieren das Land. Alle sind korrupt. Jeder beutet Jeden aus. Du kannst niemandem mehr vertrauen». In seinem Gesicht spiegelt sich Abscheu, Verachtung und Verzweiflung; er winkt ab, seine Stimme wird lauter: «Ich habe wirklich alles Mögliche versucht, um eine ehrliche Existenz aufzubauen. Keine Chance! Sie nehmen dir alles, sie schlagen dich, sie foltern dich, sie entführen dich, sie töten jeden, der sich ihnen in den Weg stellt, sie sind unberechenbar».
Wieder Vertrauen finden
Sie, das sind neben der gefürchteten islam-fundamentalistischen Harakat al-Shabaab al-Mujahideen (dt: «Bewegung der Mudschahedin-Jugend») kurz Al Shabaab-Miliz vor allem Mitglieder anderer Clans, die heutigen Warlords Somalias. O.H. muss vor und während der Flucht Schlimmes erlebt und erlitten haben. Heute kann er dank einer speziellen Therapie besser damit umgehen. «Ich konnte mich nur noch schwer konzentrieren, der Lärm, die vielen verschiedenen Leute, der ständige Wechsel und die Unruhe in den verschiedenen Asylzentren machten mich ganz konfus», erzählt er. Er blickt zu Boden, als scheint er sich zu schämen für seine Sensibilität. Dabei habe er alles recht gemacht, wie er später in der Therapie erfährt. Er griff instinktiv auf zwei wichtige Ressourcen zurück: seine Lernfähigkeit und seine Lernmotivation. «Schon in Somalia habe ich jede Chance genutzt, um mir Mathematik, Englisch und ein Basiswissen über Microsoft Office, Ernährung und Nothilfe beizubringen. Allerdings ist das dort nur noch bei schlecht ausgebildeten privaten Lehrern für viel Geld möglich», erzählt O.S. «Lernen gibt mir Halt, Lebenssinn und eine Struktur». Zwei Jahre lang arbeitete er im Beschäftigungsprogramm einer Asylunterkunft im Berner Seeland mit, besuchte einen Deutschkurs in Biel und eignete sich in kurzer Zeit einen beachtlichen Wortschatz und grammatikalische Kompetenzen an. Doch schliesslich konnte er kaum mehr schlafen und essen, war gereizt, misstrauisch und aggressiv. «Die lange Wartezeit bis zum Asylentscheid ist für alle sehr belastend, das ist klar», meint O.H. «Warum aber einige sehr früh wissen, ob sei bleiben können, und andere so wie ich vier Jahre auf einen Bescheid warten müssen, das macht unsicher und löst Ängste aus». Auch die beengenden Verhältnisse in einer Wohnung mit zwei anderen Asylsuchenden aus Somalia – einer davon schwer psychisch angeschlagen und ohne in ärztliche Behandlung – waren kein gutes Umfeld für O.H. «Ich konnte das alles nicht mehr ertragen. Dank der Therapie habe ich meine Stärken kennengelernt». Lernen sei auch Ablenkung, mache den Horizont auf und helfe, neue Perspektiven zu sehen und wieder Vertrauen zu finden.

Kleine Unterstützung, grosse Wirkung
Die Finanzierung eines weiterführenden Sprachkurses oder von nötigen Zwischenschritten für die berufliche Integration ist für vorläufig Aufgenommene ein besonderer Hürdenlauf. Im Gepäck maximal ein Sprachkurs und ein für Arbeitgebende irritierender Aufenthaltsausweis, sollen sie nun rasch möglichst von der Sozialhilfe unabhängig werden. Oft springen dann Stiftungen und Private in die Bresche, wo des Staates Hilfe endet und wo rasche, unbürokratische Hilfe gefragt ist. Auch die Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH) verfügt für solche Situationen über einen kleinen Unterstützungsfonds. Auf Antrag seiner Betreuerin hat die SFH O.H. einen Folgekurs in Deutsch, die Lehrmittel und die Reisekosten finanziert. Seine Betreuerin betont, wie wichtig der Kurs gerade zu diesem Zeitpunkt für O.H. war: «Der Kurs vermittelte ihm neben der Sprache auch eine Tagesstruktur, förderte seine psychische Stabilität und sein Selbstvertrauen». Zweimal die Woche zieht sich O.H. die Kickschuhe an. Fussball sei immer seine Leidenschaft gewesen und gebe ihm Kraft: «Ich habe den FC Basel schon in Somalia gekannt. Als ich 2016 im Empfangszentrum Basel war, spielten gerade der FC Liverpool und Titelverteidiger FC Sevilla um den Europa-League-Titel. War das eine tolle Stimmung!» Ob er denn drinnen am Match gewesen sei? Nicht ganz, er habe draussen vor dem St. Jakobs-Stadion den Abfall weggeputzt; aber irgendwann einmal werde auch er drinnen sein. Arbeit finden, die Sprache verbessern, aus der Isolation herauskommen – O.H. kämpft weiter gegen die Ungewissheit und gegen seine Zukunftsängste. Er sagt heute: «Die persönliche Freiheit und die hohe Qualität aller Dinge, das finde ich das Beste in der Schweiz.»
Die Zahlen dahinter
Knapp 49‘000 Personen oder 86 Prozent aller Menschen im Schweizer Asylprozess leben im Provisorium der vorläufigen Aufnahme, das heisst mit einen sogenannten F-Ausweis. Ihre Asylgründe wurden nicht anerkannt, aber die Betroffenen können oft schon seit vielen Jahren nicht in ihr Herkunftsland weggewiesen werden, weil dies wegen Krieg, gewalttätiger Konflikten oder Verfolgungsrisiko nicht zumutbar ist. Über 14‘300 Personen leben seit über sieben Jahre in diesem unsicheren Zustand. Somalierinnen und Somalier sind nach den Schutzsuchenden aus Afghanistan (12‘170), Eritrea (10‘147) und Syrien (9‘070) die viert grösste Gruppe im Asylprozess: Ende August 2020 waren 3'272 Menschen somalischer Herkunft im Asylprozess registriert, davon 3'170 vorläufig aufgenommen und davon 1388 länger als sieben Jahre in diesem Status. Die Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH) fordert für diese Menschen seit langem einen vergleichbaren Schutzstatus wie anerkannte Flüchtlinge.