Die geplante Auswertung von Handydaten verletzt die Grundrechte von GeflĂĽchteten

04. Mai 2021

Der Nationalrat stimmt einer Gesetzesänderung zu, die das Recht auf Privatsphäre unnötig massiv einschränkt: Asylsuchende sollen verpflichtet werden, künftig ihre elektronischen Datenträger den Behörden auszuhändigen – und diese werden ermächtigt, selbst besonders schützenswerte Daten auszuwerten. Das ist rechtsstaatlich höchst bedenklich.

Peter Meier, Leiter Asylpolitik

Es ist eine drastische Massnahme: Können Asylsuchende keine Ausweispapiere vorlegen, sollen die Schweizer Behörden kĂĽnftig zur Abklärung von Identität, Nationalität und Reiseweg deren Handys, Tablets und andere elektronische Datenträger durchsuchen und vollen Zugriff auf ihre persönlichsten und sensibelsten Daten erhalten – fast nach Belieben, ohne begrĂĽndeten Verdacht, ohne richterliche ĂśberprĂĽfung und Genehmigung. So sieht es ein Gesetzesentwurf vor, den der Nationalrat mit 123 gegen 65 Stimmen gutgeheissen hat.

Ein solcher Freipass für die Behörden ist beispiellos im Schweizer Recht. Zum Vergleich: Selbst im Strafverfahren ist die Auswertung mobiler Datenträger weit restriktiver geregelt, nur bei dringendem Tatverdacht auf schwere Delikte zugelassen und einer unabhängigen Kontrolle unterworfen. Schutzsuchende, die nur ihr verbrieftes Recht auf ein Asylgesuch wahrnehmen, sollen also vom Gesetzgeber künftig bewusst schlechter gestellt werden als mutmassliche schwere Straftäter. Mit anderen Worten: Da wird zweierlei Recht geschaffen – mit dem Segen des Nationalrats.

Damit nicht genug: Die grosse Kammer setzt auch willentlich das völker- und verfassungsrechtlich garantierte Recht auf Privatsphäre aufs Spiel. Ein Eingriff in dieses Grundrecht ist nur unter ganz bestimmten Voraussetzungen zulässig: So müssen gemäss Bundesverfassung Einschränkungen insbesondere zwingend notwendig und verhältnismässig sowie durch ein überwiegendes öffentliches Interesse gerechtfertigt sein. Ein solch weitreichender Eingriff wie die vorgesehene Überprüfung der elektronischen Datenträger muss zudem in einem Gesetz im formellen Sinn geregelt sein, die Bedingungen für den Zugriff und die Bearbeitung persönlicher Daten müssen darin hinreichend detailliert und der Kerngehalt des Grundrechts muss geschützt sein. Die vom Nationalrat verabschiedete Vorlage seiner Staatspolitischen Kommission (SPK) erfüllt indes keine dieser Voraussetzungen.

Ungenauigkeiten, Lücken und Mängel

Als gesetzliche Grundlage ist die vorgeschlagene Regelung unzureichend. Sie erteilt einerseits den Behörden weitreichende und kaum kontrollierbare Vollmachten für die Datenauswertung, weist andererseits aber gravierende Ungenauigkeiten, Lücken und Mängel auf. So ist darin etwa nirgends abschliessend geregelt, auf welche Datenträger das Staatssekretariat für Migration zugreifen darf und wie lange diese eingezogen werden. Es fehlt eine klare Triage und Definition, welche Daten zur Abklärung von Identität und Nationalität erforderlich sind und daher tatsächlich erhoben werden dürfen – und welche nicht. Damit wird eines der zentralen Datenschutzprinzipien untergraben: der Grundsatz der Zweckbindung.

Nicht klar geregelt ist im Gesetzesentwurf auch das Verfahren des Datenzugriffs, der Datenauswertung und der Datenspeicherung. Es fehlt die nötige Präzisierung, dass die vorgesehenen Massnahmen nur als ultima ratio eingesetzt werden dürfen – also nur, wenn der beabsichtigte Zweck nicht mit einem weniger schwerwiegenden Eingriff in die Privatsphäre erreicht werden kann. Ganz zu schweigen von der fehlenden Genehmigungspflicht und unabhängigen Kontrolle. Kurzum auf einen Nenner gebracht: Die Gesetzesvorlage ist nicht nur gefährlich, weil sie den Grundrechtsschutz und die Einheit der Rechtsordnung aushöhlt – sie ist auch ein Pfusch.

Warnungen gab es im Vorfeld mehr als genug. Nicht nur die SFH und zahlreiche weitere NGO lehnten die geplante Datenauswertung in der Vernehmlassung als unverhältnismässig schweren Eingriff in die Privatsphäre von Asylsuchenden ab. Auch Staatsrechtler wie Markus Schefer haben auf die höchst problematischen Aspekte der Vorlage verwiesen. «Bedenken grundsätzlicher Natur» meldete in der Vernehmlassung gar dezidiert der Eidgenössische Datenschutzbeauftragte an, der nicht gerade im Ruf steht, ein fundamentalistischer Alarmist zu sein. Aber auch er verneinte die Verhältnismässigkeit der vorgeschlagenen Massnahmen und zweifelte daran, dass diese «geeignet sind, die gewünschte Wirkung zu erzielen». Genützt hat es nichts – weder in der SPK noch im Nationalrat.

Warnungen in den Wind geschlagen

Die Befürworterinnen und Befürworter wischen die breite fachliche Kritik mit fadenscheinigen Begründungen beiseite, die sich im Wesentlichen auf vier Hauptargumente kondensieren lassen: Als erstes wird die grosse Zahl Asylsuchender ins Feld geführt, die ohne Papiere in die Schweiz komme und ihre Identität verschleiere. Fehlende Papiere können freilich verschiedene Ursachen haben: vom Verlust auf den lebensgefährlichen Fluchtwegen über Diebstahl oder Abnahme durch kriminelle Schlepper bis hin zur Tatsache, dass ihr Heimatland ihnen nie welche ausgestellt hat. Doch statt nach den wahren Gründen zu fragen, wird generell Missbrauch und Böswilligkeit unterstellt – an die Stelle der Unschuldsvermutung tritt faktisch die pauschale Vorverurteilung.

Das zweite Hauptargument verniedlicht die Schwere der geplanten Massnahmen: «Wer nichts zu verbergen hat, hat auch nichts zu befürchten.» Auch hier verstellt der Generalverdacht den nüchternen Blick auf das Entscheidende: das Wesen des Freiheitsrechts. Nur weil ich nichts zu verbergen habe, darf der Staat doch nicht alles von mir wissen. Asylsuchende müssen im Rahmen ihrer Mitwirkungspflicht zwar alle für das Verfahren relevanten Informationen offenlegen – nicht aber sämtliche höchst persönlichen, sensiblen und schützenswerten Daten. SMS, Chatnachrichten, Korrespondenzen mit Anwalt oder Arzt, Fotos, Videos und persönliche Notizen etwa können intimste Details enthalten, die für das Verfahren nicht relevant sind und den Staat nichts angehen. Das ist der Kern der Privatsphäre, den die Gesetzesvorlage verletzt.

Drittens führen die Befürworter*innen als vermeintlichen Beleg für die Verhältnismässigkeit des Grundrechtseingriffs an, die Datenauswertung erfolge nur mit Einverständnis der Asylsuchenden. Doch wer sich tatsächlich auf seine Privatsphäre beruft und die Herausgabe des Handys ablehnt, verletzt gemäss Vorlage seine Mitwirkungspflicht und muss gravierende negative Konsequenzen für sein Verfahren gewärtigen. Freiwilligkeit? Von wegen. Unerwähnt bleibt bei diesem Argument auch, dass Asylsuchende bereits heute von sich aus Handy- und Computerdaten als Beweismittel geltend machen können.

Das vierte Hauptargument der Befürworter*innen ist schliesslich der Verweis darauf, dass die Schweiz mit der geplanten Gesetzesänderung nicht alleine stehe, sondern auch andere europäische Staaten ähnliche Regelungen vorsähen. Unterschlagen wird dabei, dass Länder wie etwa Österreich oder Belgien diese Massnahmen aus Datenschutzgründen gar nicht anwenden. In Deutschland wiederum ergaben sich 2020 nur bei 1,8% der erfolgreichen Datenträgerauswertungen Widersprüche zu den Angaben der Asylsuchenden. Insgesamt zeigt die Forschung, dass solche Datenauswertungen unzuverlässig, gefährlich und teuer sind, zugleich aber kaum einen Nutzen erbringen.

Nicht nachvollziehbarer Entscheid

In der Schweiz wurde nur ein kurzes Pilotprojekt durchgeführt. Selbst der Bundesrat, der die Vorlage befürwortet, musste daher einräumen, «dass die Wirksamkeit und Geeignetheit der vorgeschlagenen Massnahmen zum heutigen Zeitpunkt nicht abschliessend beurteilt werden können». Das bedeutet: Die Gesetzesänderung soll nun allein auf Gutdünken hin unbefristet eingeführt und erst nach drei Jahren evaluiert werden.

Unter dem Strich ist der Entscheid des Nationalrats nicht nachvollziehbar. Auf dieser wackeligen Grundlage einen solch schweren Grundrechtseingriff gutzuheissen, ist rechtsstaatlich und aus Sicht des Datenschutzes höchst bedenklich. Hinzu kommt, dass damit nur Vorurteile und Misstrauen gegen Asylsuchende geschürt werden. Es ist nun am Ständerat, den Fehlentscheid zu korrigieren.

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