Flüchtlingscamps in Griechenland: Medizinische Versorgung begrenzt

27. August 2020

Justine* wurde zwangsverheiratet und Opfer von häuslicher Gewalt. Deshalb floh sie aus dem zentralen Afrika und suchte 2018 in Griechenland Schutz. Damals war sie mehrere Monate schwanger. Sie verlor ihr Kind auf tragische Weise.

Justine stammt aus einer christlichen Gemeinschaft aus einem Land**, in dem Religion und Tradition höher gewertet werden als das Gesetz. Als Minderjährige wurde sie von ihrer Familie gegen eine Mitgift an einen viel älteren Mann verkauft. Sie musste sich dem Willen ihrer Familie beugen; sie hatte keine andere Wahl. Fortan ist Justine regelmässig häuslicher Gewalt ausgesetzt. Sie wird schwanger und erduldet stillschweigend die ständigen Schlägen ihres Ehemanns, den sie nie wollte. Aber sie hält durch. Das kleine Mädchen, das sie zur Welt bringt, gibt ihr Lebenssinn und vor allem die Kraft, dieses Leben weiterzuführen.

Nach mehreren Jahren stirbt ihr Ehemann plötzlich und lässt Justine schwanger zurück. Üblicherweise müsste sie nun den älteren Bruder heiraten, der ebenfalls bereits über fünfzig Jahre alt ist. Aber die junge Frau kann dieses von Traditionen geprägte Leben nicht mehr ertragen und weigert sich, ihren Kindern das Gleiche zuzumuten. Deshalb beschliesst sie, alleine zu fliehen. Sie lässt ihre Tochter bei einer Freundin und verspricht ihr, sie später nachzuholen. Justine lässt das eigene Kind nicht im Stich. Sie nimmt einen Flug in die Türkei und hofft, so nach Europa zu gelangen und dort Schutz zu finden. «Für mich bedeutete Europa immer die Einhaltung der Menschenrechte», berichtet sie.

Ankunft im Flüchtlingscamp auf der Insel Chios

An der türkischen Küste steigt Justine in ein kaum fahrtaugliches Boot. Bis zu ihrer Ankunft auf der Insel Chios muss sie eine turbulente Überfahrt überstehen, die in ihrer Seele traumatische Spuren hinterlässt. «Ich habe den Küstenwache sofort gesagt, dass ich im sechsten Monat schwanger bin, aber sie waren überhaupt nicht daran interessiert, mich zu untersuchen.» Sie wird in das Flüchtlingscamp Vial gebracht, in dem ungefähr 5‘000 geflüchtete Menschen zusammengepfercht leben. Sie schläft mit 17 Personen in einem Zelt auf dem Boden. «Ich war die einzige Schwangere... ich schlief sehr schlecht und verlor den Appetit. Das Essen war häufig verdorben und man musste um fünf Uhr aufstehen, um etwas zu bekommen», erinnert sie sich. Auf Chios sind die Lebensumstände für Geflüchtete und Schutzsuchende ebenso schlimm und elend wie in den Camps auf den Inseln Lesbos, Samos, Kos und Leros. Fast 40‘000 Menschen, zwei Drittel davon Frauen und Kinder, überleben dort in grösster Armut.

Eines Morgens wacht Justine «mit etwas Feuchtem zwischen den Beinen» auf. Es juckt und sie hat Bauchschmerzen. Sie geht sofort zur Krankenstation im Lager und wird nach langer Wartezeit von einer Hebamme untersucht. «Sie gab mir Schmerzmittel und eine Schlaftablette und empfahl mir, mich mit warmem Wasser zu waschen, was unmöglich ist, weil es im Lager kein warmes Wasser gibt! Ich sollte nach drei Wochen wiederkommen, dann wäre vielleicht ein Gynäkologe verfügbar», erklärt sie.

Einige Tage später wacht Justine mit Blut auf den Kleidern auf. «Ich bin in Panik geraten und sofort zur Hebamme zurückgegangen. Sie hat versucht, mich zu beruhigen und hat einen Krankenwagen gerufen, um mich in die Notaufnahme ins Spital der Stadt zu bringen», erinnert sie sich. Im Spitalzentrum nimmt man ihr Blut ab und macht einen Ultraschall. Dann wird sie mehrere Stunden in einem Rollstuhl sitzengelassen, ohne Erklärung. Danach wird sie in ein anderes Zimmer gebracht. Sie bekommt eine Spritze in den Unterleib. Dies löst aber wieder Blutungen und starke Schmerzen aus. «Ich war mir selbst überlassen. Niemand erklärte mir, was mit mir geschah», erzählt Justine. Dann bringt man sie in den Operationssaal, und sie erhält eine Narkose. Als sie wieder aufwacht, hat sie starke Schmerzen im Unterleib. Über ihren Bauch zieht sich eine Narbe. «Ich hatte das Kind verloren. Bis heute weiss ich nicht, was mit mir passiert ist. Was war der Fehler? War ich nachlässig? Hätte ich früher ins Spital gebracht werden sollen? Darauf habe ich nie Antworten erhalten.»

Geschwächt und bestürzt bittet Justine darum, ihr Kind zu sehen. Man stellt ein blaues Becken vor sie hin, in dem ein sechsmonatiger Fötus im Blut schwimmt. Ein kleines Mädchen. «Dieses Bild hat sich in mein Gedächtnis eingebrannt. Ich kann es nicht vergessen.» Im Schock kann sie das Ausmass dieser Tragödie nicht erfassen. Die Pflegenden packen das Baby wieder ein. Sie darf es nicht anfassen, in ihren Armen halten und sich von ihm verabschieden. «Ich weiss noch nicht einmal, wo sie begraben ist», klagt Justine mit zitternder Stimme. «Ich hätte zumindest ein besseres Gewissen, wenn ich wüsste, wo ich Kerzen und Blumen niederlegen könnte.» Sie hätte Anspruch auf psychologische Unterstützung, aber das würde ihr in ihrer Trauer nicht helfen, meint sie. Sie habe gelernt, damit zu leben, allerdings mehr schlecht als recht.

Heute lebt Justine als anerkannte Flüchtlingsfrau in Griechenland.  Sie hat eine temporäre Arbeit in einem Hotel gefunden. Sie hofft, dass sie eines Tages die Wahrheit darüber erfährt, was mit ihr und ihrem Baby geschehen ist. Ihre medizinischen Unterlagen konnte sie trotz mehrmaligem Nachfragen noch nie einsehen. Jetzt ist es ihr Ziel, ihre ältere Tochter mit Hilfe des Familiennachzugs nach Griechenland zu holen.

*Zur Wahrung der Anonymität wurde der Name geändert.

** Zur Wahrung der Anonymität wird das Herkunftsland nicht genannt. 

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