Austausch zwischen Industrienähmaschine und Schulbibliothek

19. Dezember 2019

«Ich zeige dir meine Werkstatt und du zeigst mir deine Schule». So lautet die Kurzformel für den neukonzipierten Begegnungstag des SFH-Bildungsteams. Der Austausch zwischen Schweizer Jugendlichen und Asylsuchenden in Ausbildung funktioniert so auf Augenhöhe.

Etwas Gemeinsames schafft Vertrauen und Wohlwollen. Beim Begegnungstag der Schweizerischen Flüchtlingshilfe (SFH) präsentieren Jugendliche, die in der Schweiz aufgewachsen sind, und Asylsuchende, die für ihren beruflichen Werdegang ein Integrationsprojekt absolvieren, sich gegenseitig ihren Ausbildungsplatz. Dank diesem neuen Impuls des erfahrenen SFH-Migrations- und Bildungsfachmanns Gasim Nasirov hat der Begegnungstag an Lebendigkeit und Nachhaltigkeit gewonnen. «Alle Beteiligten nutzen so eigene Kompetenzen aus ihrer Lebenswelt und der Austausch geschieht auf Augenhöhe», erklärt Barbara Roedlach, Leiterin der SFH-Bildungsabteilung.

Geschichtslehrer Roberto Peña hat einen solchen Begegnungstag für seine knapp zwanzig Schülerinnen der Fachmittelschule Biel-Seeland, einer Abteilung des Gymnasiums, gebucht. Sie besuchen am Morgen das berufliche Integrationsprojekt «HandsOn», das die Stiftung Heilsarmee Schweiz, eine Mitgliedorganisation der SFH, seit 2017 Asylsuchenden aus der Region Bern anbietet. Zusammen mit den «HandsOn»-Teilnehmenden reisen die Schülerinnen am Nachmittag nach Biel, wo sie ihnen ihre Schule vorstellen werden. Roberto Peña liegt es am Herzen, seinen Schülerinnen und Schülern historische und aktuelle Lebensrealitäten anschaulich zu vermitteln und sie zur Selbstreflexion anzuregen: «Sie werden soziale Berufe ergreifen und sollen sensibilisiert auf verschiedene Menschen zugehen können. Am SFH-Begegnungstag erleben sie die Realität junger Asylsuchender eins zu eins. Vertiefte Gespräche sind möglich, weil Geflüchtete in einem beruflichen Integrationsprojekt schon erfahren und sprachgewandt sind».

Hohe Erfolgsquote

Fasziniert beobachten die Schülerinnen die flinken Hände der geflüchteten jungen Menschen aus Tibet, Eritrea, Iran, Irak, Afghanistan, Sri Lanka und Syrien. «Es braucht viel Übung und Geschick, um auf diesen grossen Industrienähmaschinen mit den unterschiedlich dicken Stoffen saubere Säume zu nähen», erklärt Ehsanullah Ahmad aus Afghanistan. Stolz zeigt er den staunenden Schülerinnen seine Taschen-Kollektion und beantwortet gelassen ihre Fragen über sein früheres Leben. Sein Wunschberuf sei Tontechniker; das könne er mit seinem freiwilligen Engagement beim Berner Lokalradio Radio etwas ausleben. In der beruflichen Realität wird er – wenn alles klappt – vielleicht bald eine Lehre als Elektromonteur beginnen.

Inzwischen sitzen an allen Nähmaschinen Schülerinnen und versuchen sich im schnurgeraden Nähen. Sie werden dabei geduldig angeleitet; Gelächter, Ermunterungen, Sprüche sind zu hören. Die Schutzsuchenden freuen sich, ihr Know-How weitergeben zu können. «Jeder hier möchte eine Arbeit finden und in Zukunft sein Leben selber finanzieren können», sagt Yosef Barshan, ein Kurde, der aus dem Irak geflüchtet ist. Einige haben in ihrem früheren Leben studiert und erlernen vielleicht die deutsche Sprache deshalb etwas schneller. Doch auch sie müssen wieder von vorne beginnen.«Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer haben ein Jahr Zeit, um sich sprachlich und beruflich fit für eine Lehre oder Vorlehre zu machen», erklärt Jonathan Wüthrich, Leiter Produktion. Das Projekt weist eine beachtliche Erfolgsquote auf: «28 von 30 HandsOn-Absolventen haben eine Anschlusslösung gefunden, viele eine Lehrstelle oder eine Vorlehre. Das Projekt finanzieren wir unter anderem über Auftragsarbeiten», ergänzt Mitarbeiterin Fabienne Duss.

«Es wird immer Flüchtlinge geben»

Während der Reise nach Biel und den Führungen in kleinen Gruppen durch die Schule entwickeln sich Gespräche. «Die meisten Asylsuchenden sprechen schon recht gut Deutsch, wir können uns richtig gut unterhalten», freut sich eine Schülerin. «Wow, ihr habt eine schöne Schule mit Bibliothek, Computerplätzen, Musikraum, Sporthalle und einem See in der Nähe, das ist toll», bemerken einige Asylsuchende beeindruckt. Manche erinnern sich an ihre eigene Schulzeit, die – sei es wegen Krieg oder Vertreibung oder bitterer Armut – allzu oft ein abruptes Ende hatte. Doch die Freude über die Begegnung mit jungen Menschen aus der Schweiz überwiegt, das kommt in der abschliessenden Feedbackrunde deutlich zum Ausdruck.

Zuvor messen sich die Gruppen auf dem Pausenhof in Sackgumpen, Basketball, Stafetten-Laufen und haben viel Spass dabei. «Seit ich in der Schweiz bin, war das der schönste Tag», sagt Yosef Barshan sichtlich bewegt. «Wir alle haben das Bild, das uns die Medien über Asylsuchende vermitteln. Heute konnten wir uns selber ein Bild zu machen. Das hat mir sehr gefallen», sagt Schülerin Ramona Schär. Eine Schülerin muss immer wieder an die Fluchtgeschichte ihrer eigenen Familie denken und meint: «Es wird immer Flüchtlinge geben. Besser, man investiert in sie, wenn sie bleiben können, und ermöglicht ihnen ein selbständiges Leben. Das ist gut für sie und das ist auch gut für unsere Gesellschaft».

Text: Barbara Graf Mousa, Redaktorin SFH

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