«Wir arbeiten mit den Behörden Hand in Hand»

21. Juni 2023

Die Kantone und Gemeinden sind im schweizerischen Asylsystem für die Unterbringung und den Integrationsprozess geflüchteter Menschen zuständig. Nach der Zuteilung in die Kantone leben Geflüchtete entweder in einer Kollektivunterkunft, in anderen kantonal oder kommunal gemieteten Wohnmöglichkeiten oder in privater Unterbringung bei Gastfamilien. Diese werden von den Kantons- oder Gemeindebehörden selbst oder von Hilfswerken sowie Freiwilligen nach Bedarf unterstützt und begleitet. Projektleiterin Annina Halter von Caritas Aargau/Solothurn, einer Mitgliedsorganisation der Schweizerischen Flüchtlingshilfe (SFH), begleitet mit ihrem vierköpfigen Team in diesen zwei Kantonen die Gastfamilien. Die SFH hat sich mit ihr zu einem Gespräch getroffen.

Annina Halter, erklären Sie uns kurz, wofür Sie genau verantwortlich sind?

«Caritas Aargau/Solothurn hat mit dem Kanton Solothurn seit Mai 2022 und mit dem Kanton Aargau seit Juni 2022 je eine Leistungsvereinbarung. Darin sind unsere Zuständigkeiten genau geregelt. In den beiden Kantonen sind unsere Rollen etwas unterschiedlich. Im Grossen und Ganzen aber bin ich mit meinem mehrsprachigen Team für alle Fragen und Bedürfnisse der Gastfamilien rund um das Zusammenleben zuständig.»

Was ist im Kanton Aargau anderes geregelt als im Kanton Solothurn?

«Im Kanton Aargau übernimmt der kantonale Sozialdienst das sogenannte Matching, das Zusammenbringen von Geflüchteten und Gastfamilien. Der Kanton Solothurn hingegen hat hierfür Caritas beauftragt.»

Woher stammen die Adressen der interessierten Gastfamilien?

«In beiden Kantonen arbeiten wir mit der Datenbank der SFH. Beide Kantone verweisen auf ihren Websites auf das SFH-Anmeldeformular für interessierte Gastfamilien.»

Welche Art von Unterstützung brauchen Gastfamilien Ihrer Erfahrung nach?

«Für die Familien ist es wichtig, eine Ansprechperson zu haben und zu wissen, an wen sie sich bei Fragen oder Anliegen wenden können. Unsere Gastfamilienbegleitenden sprechen Ukrainisch oder Russisch und helfen damit den Gastfamilien und den Geflüchteten gleichermassen. Die sprachliche Verständigung bleibt eine der grössten Herausforderungen im täglichen Zusammenleben. Manchmal führen unterschiedliche Gewohnheiten im Alltag zu Missverständnissen. Dann unterstützen wir die Gastfamilien und führen, wenn nötig, ein Gespräch mit allen Beteiligten.»

Und was ist für Geflüchtete bei Gastfamilien hilfreich?

«Sich in der eigenen Muttersprache ausdrücken zu können und die eigenen Anliegen, Sorgen oder auch Ängste anzusprechen, ist für sie oft unerlässlich. Manchmal gibt es einfach Themen, die sich nicht mit Hilfe eines Übersetzungstools besprechen lassen.»

Haben Sie aufgrund von Erfahrungen im Prozess des Zusammenfindens zwischen Gastfamilien und Geflüchteten etwas geändert oder angepasst?

«In Solothurn treffen sich Geflüchtete und potentielle Gastfamilien zu einem Erstgespräch, bevor das Zusammenleben beginnt. Beide Parteien dürfen nach dem ersten Eindruck entscheiden, ob sie es miteinander versuchen möchten. Damit machen wir sehr gute Erfahrungen.»

Aktuell sind die Kantone und Gemeinden mit der Bereitstellung von ausreichenden Unterkünften für Asylsuchende sehr gefordert. Sind die Gastfamilien deshalb für die Behörden in Solothurn und Aargau eine willkommene Alternative oder Ergänzung?

«Ich kann natürlich nicht für die Behörden sprechen, aber in der aktuellen Situation ist sicherlich jeder gute Platz willkommen. Ohne die private Unterbringung – dazu gehören neben den Gastfamilien auch Bekannte und Freunde von Geflüchteten – wäre es in beiden Kantonen vor einem Jahr vermutlich kaum gelungen, allen ukrainischen Geflüchteten in so kurzer Zeit ein Dach über dem Kopf zu organisieren. Die Zusammenarbeit mit den Behörden übrigens ist in beiden Kantonen sehr gut, angenehm und verlässlich; wir arbeiten Hand in Hand und ziehen am gleichen Strick.»

Welche Erfahrungen machen Sie aktuell mit Gastfamilien? Sind die Solidarität und die Bereitschaft, seinen eigenen Wohnraum mit geflüchteten Menschen zu teilen, nach wie vor da?

«Nun, es hat sich schon etwas verändert seit dem vergangenen Jahr. Damals war die Solidarität für die flüchtenden Ukrainerinnen und Ukrainer, oft Frauen mit ihren Kindern, und der Schrecken über den russischen Angriffskrieg unmittelbar nah und sehr stark. Die Anteilnahme ging durch das ganze Land, viele Familien öffneten ihre Türen spontan für die Geflüchteten und handelten rasch und unkompliziert. Heute hat sich eine gewisse ‘Normalität’ zum Krieg eingeschlichen. Viele Gastfamilien haben ihr Angebot zurückgezogen, weil sich ihre Lebenssituation inzwischen wieder verändert hat oder ihr Angebot nicht berücksichtigt werden konnte.»

Wie schätzen Sie aus Ihrer Erfahrung die Offenheit der lokalen Bevölkerung ein, Geflüchtete aus anderen Herkunftsländern als Gäste aufzunehmen?

«Einige der potentiellen Gastfamilien hatte genaue Vorstellungen, wen sie aufnehmen möchten: meist Frauen mit Kindern, gerade weil diese in der Anfangszeit oft in den Medien gezeigt wurden. Für alleinreisende Männer einen Platz in einer Gastfamilie zu finden, ist deutlich anspruchsvoller. Im Kanton Solothurn dürfen wir auch Geflüchtete aus anderen Herkunftsländern in Gastfamilien vermitteln. Auch da ist es anspruchsvoll, einen Platz für die Geflüchteten zu finden. Einerseits erhalten wir hier vor allem Anmeldungen von jungen Männern, was wie bereits gesagt, generell deutlich schwieriger ist, andrerseits spielen hier aber auch Alter, Religion und Herkunft eine Rolle. Es gibt aber auch sehr offene Gastfamilien, für die es keine Rolle spielt, woher ihre Gäste kommen und welcher Religion sie angehören.»

Welche Nachhaltigkeit sehen Sie im Gastfamilienmodell?

«Wenn das Zusammenleben eine Win-Win-Erfahrung sowohl für die Gastfamilien wie für die Gäste ist, dann bleiben die Kontakte oft bei Auflösung der Wohngemeinschaft bestehen. Meiner Meinung nach kann Integration nirgends so gut stattfinden, wie in einer Gastfamilie, wenn beide Seiten dies möchten und anstreben. Für mich ist es keine Selbstverständlichkeit, dass Gastfamilien Tür und Tor zu ihrem Leben für fremde Menschen öffnen. Umso wichtiger ist es, dass wir diese unbezahlbare Leistung wahrnehmen und wertschätzen.»

Informationen für Gastfamilien

Die private Unterbringung von Geflüchteten ist in der Schweiz kantonal oder kommunal und entsprechend sehr unterschiedlich organisiert. Die interaktive Karte auf der SFH-Website gibt Auskunft: Mit einem Klick auf den Wohnkanton wird sichtbar, wie sich die dortige Situation präsentiert und wo sich Gastfamilien registrieren können. www.fluechtlingshilfe.ch/karte-gastfamilie

Weiterbildungen für Gastfamilien

Das Zusammenwohnen will gut überlegt und vorbereitet sein. Neben den Gastfamilien und den Geflüchteten sind auch Behörden und Hilfswerke sowie Freiwillige mitbeteiligt. Die SFH unterstützt sie in jeder Phase mit zielgruppenspezifischen Angeboten.