Todesgefahr und Flucht für ein nie begangenes Verbrechen

21. August 2023

Cihan Dilber arbeitet seit April im Bildungsteam der Schweizerischen Flüchtlingshilfe (SFH) mit. Der ehemalige Staatsanwalt flüchtete mit seiner Frau, einer Richterin, und seinem Sohn vor vier Jahren aus der Türkei. Heute erzählt er an den SFH-Länderabenden, Kursen oder Begegnungstagen über sein Herkunftsland und seine persönliche Flucht- und Integrationsgeschichte. Die Fluchtpunkt-Redaktion hat ihn zum Interview getroffen.

Interview und Fotografie: Barbara Graf Mousa, Redaktorin SFH

Cihan Dilber; wo sind Sie aufgewachsen?

«Ich bin in der Türkei geboren und in vielen verschiedenen Regionen aufgewachsen. Bis zur Universität bin ich an sechs verschiedenen Orten zur Schule gegangen und habe maximal drei Jahre in einer Stadt gelebt.»

Wie war die Stimmung während Ihrer Kinder- und Jugendjahre in der Türkei?

«Auch damals gab es wirtschaftliche und politische Probleme in der Türkei. Allerdings waren die Polarisierung und Spaltung der Gesellschaft nicht so stark; die Menschen waren nicht so feindselig und hoffnungslos wie heute.»

Sie haben an der juristischen Fakultät der Universität Ankara studiert.

«Genau. Danach begann ich die zweijährige Ausbildung zum Staatsanwalt.»

…und lernten dabei die Liebe Ihres Lebens kennen…

«Oh ja, ein grosses Glück! Wir heirateten und 2011 wurde ich zum Staatsanwalt und meine Frau Aysegul zur Richterin ernannt. Wir begannen unseren Dienst. Fünf Jahre lang, exakt bis zum 15. Juli 2016, haben wir unsere Ämter gewissenhaft und mit viel Erfolg ausgeübt.»

Wie war die Situation zuletzt in der Türkei, bevor Sie das Land verlassen mussten?

«Viele Menschen wurden wegen ihrer politischen Ansichten, ihrer Rasse und ihrer Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe inhaftiert. Kurz gesagt, jeder, der sich der Regierung widersetzte, wurde bedroht. Leider verschlimmert sich diese Situation jeden Tag.»

Sie als Staatsanwalt und Ihre Frau als Richterin waren davon besonders betroffen. Wie ist es Ihnen und Ihrer Frau ergangen?

«Am 15. Juli 2016, etwa fünf bis sechs Stunden nach dem sogenannten Putschversuch, der bis heute nicht aufgeklärt ist, wurden wir entlassen und zusammen mit 2745 Richterinnen, Richter und Staatsanwälten verhaftet. Unsere verfassungsmässig verankerte Sicherheit wurde einfach ignoriert. Wir wurden mit der Behauptung verhaftet, wir seien Terroristen, weil wir den Putschversuch unterstützt hätten. Bis heute sind dafür jedoch keine Beweise vorgelegt worden.»

Was geschah dann?

«Meine Frau wurde für neun Monate und ich für 20 Monate inhaftiert. Unser Sohn, der damals vier Jahre alt war, musste zwei Monate lang mit seiner Mutter im Gefängnis bleiben. Als wir freigelassen wurden, während unser Prozess weiterlief, mussten wir sofort unser Land verlassen. Wir riskierten den Tod, um nicht für ein Verbrechen bestraft zu werden, das wir nie begingen.»

Sind Sie in der Türkei auch heute stark gefährdet?

«Ja, wenn wir jetzt in der Türkei wären, wären wir immer noch in Gefahr. Denn es liegen Verurteilungen gegen uns vor. Diese sind zwar unrechtmässig, rein politisch motiviert und ohne Beweise gefällt worden, aber sie sind in der Türkei gültig.»

Wie gefährlich ist es für Ihre Verwandten in der Türkei heute? Können Sie ein Beispiel erzählen, wie man sich das vorstellen muss?

«Leider leben auch unsere Verwandten wegen dieses rechtswidrigen und feindseligen Urteils in ständiger Angst. Sie können nicht offen und unterstützend über ihre Verwandten sprechen, die von der Regierung zu Unrecht angeklagt und entlassen wurden. Wenn zum Beispiel eine Person für eine Durchsuchung oder Verhaftung nicht gefunden werden kann, werden ihre Angehörigen besucht und unter Druck gesetzt. Ihnen wird mit der Entlassung aus ihrem Job gedroht. Wenn sie ihren Verwandten helfen, werden auch sie einer Untersuchung unterzogen. Es kann sogar gegen sie ermittelt werden, wenn sie unterstützende Nachrichten in den sozialen Medien posten. Kurz gesagt, es herrscht ein enormer Druck.»

Wie schätzen Sie die erneute Wahl von Recep Tayyip Erdoğan ein?

«Ich denke, dieser Fall muss soziologisch untersucht werden. Um es mit einem Beispiel zu verdeutlichen: Obwohl beim jüngsten Erdbeben wegen der Nachlässigkeit der Regierung so viele Menschen starben, erhielt Erdogan gerade in diesen Provinzen die meisten Stimmen. Zudem war es kein faires Wahlverfahren. Tausende von Wahlurnen wurden trotz Manipulationsvorwürfen nicht untersucht. Ausserdem gibt es leider keine freie Presse im Land und die Menschen werden ständig berieselt, weil sie Nachrichten aus Zeitungen und Fernsehen erhalten, die Propaganda für die Regierung machen.»

Warum haben ihn so viele Exiltürkinnen und -türken gewählt?

«Ich denke, dass ein grosser Teil der Wählerinnen und Wähler im Ausland für ihn stimmten, weil sie konservativ und religiös sind, und weil Erdoğan den politischen Islam vertritt. Ausserdem können sie die aktuelle Situation in der Türkei nicht richtig analysieren, weil sie nicht dort leben.»

Sehen Sie eine positive Zukunft für die Türkei?

«Ich würde gerne sagen können, dass ich eine gute Zukunft für mein Herkunftsland sehe! Aber leider erscheint mir die Zukunft der Türkei in sehr dunklen Farben, denn Recht und Demokratie sind verschwunden, stattdessen gibt es jetzt ein Ein-Mann- und Ein-Parteien-Regime. Die Wirtschaftskrise wird deshalb noch zunehmen. Jede und Jeder, der gebildet ist, und einen Beitrag für das Land leisten könnte, sitzt entweder im Gefängnis, wird aus der Gesellschaft ausgeschlossen oder ist gezwungen, ins Ausland zu flüchten. Das Bildungssystem ist bereits sehr schlecht. Ernennungen in Ämter werden auf der Grundlage von Verwandtschaft und Parteizugehörigkeit vorgenommen, nicht auf der Grundlage von Verdiensten. Leider ist das Ergebnis bereits offensichtlich.»

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