Interview: Frédérik Kok, SFH-Länderexperte und Barbara Graf Mousa, Redaktorin SFH
Wie schätzen Sie, Zahra (Name redaktionell abgeändert), die Lage der Zivilbevölkerung in den iranischen Städten, insbesondere in Teheran, ein?
Das Leben im Iran ist schwierig geworden, vor allem aufgrund einer schweren Wirtschaftskrise, die durch internationale Sanktionen, aber auch durch wirtschaftliches Missmanagement und Korruption verschärft wird. Diese Krise trifft die Bevölkerung hart, einschliesslich der Mittelschicht, die Mühe hat, ihre Grundbedürfnisse zu befriedigen. Die Inflation bereitet der Bevölkerung grosse Sorgen, da die Preise seit Anfang des Jahres um fast 50 Prozent gestiegen sind und die Löhne stagnieren. Viele in Teheran lebende Iranerinnen und Iraner haben heute Schwierigkeiten, ihre Mieten zu bezahlen und müssen sich damit abfinden, in die Aussenbezirke zu ziehen oder wieder bei ihren Eltern zu wohnen.
Vor diesem Hintergrund mussten die Behörden seit September 2022 akzeptieren, dass sie teilweise die Kontrolle über den öffentlichen Raum verloren haben, und dass viele Frauen heute auf der Strasse kein Kopftuch mehr tragen. Eine Umkehr scheint schwierig, auch wenn der Schleier in Büros und in der öffentlichen Verwaltung weiterhin vorgeschrieben ist. Angesichts dieses Ungehorsams haben die Behörden in diesem Jahr angekündigt, die Kontrollen zu verstärken, insbesondere durch die Installation von Überwachungskameras an öffentlichen Orten. Das Parlament hat ausserdem vor kurzem (20. September 2023) ein Gesetz verabschiedet, das härtere Strafen für Frauen vorsieht, die gegen das Gesetz verstossen. Neu drohen diesen Frauen bis zu zehn Jahren Gefängnis und sie müssen mit hohen Geldstrafen rechnen. Dieses Gesetz, das noch vom Wächterrat bestätigt werden muss, wird während einer dreijährigen Probezeit gelten.
Hat sich die Gefahr seit letztem Jahr erhöht, wenn Sie an öffentlichen Demonstrationen teilnehmen?
Es ist immer noch sehr riskant, auf die Strasse zu gehen und an Demonstrationen teilzunehmen. Das blutige Vorgehen bei den Protesten nach dem Tod von Jina Mahsa Amini im September 2022 hat einen Teil der Bevölkerung entmutigt. Die Menschen wissen, dass mit Verhaftungen, Verschwindenlassen, willkürlichen Inhaftierungen, Folter und Mord gerechnet werden muss.
Im Vorfeld des Todestages von Jina Mahsa Amini nahmen die Behörden präventive Verhaftungen vor, die sich insbesondere gegen Angehörige von Personen richteten, die bei den Protesten getötet worden waren. Die Familie von Jina Mahsa Amini wurde daran gehindert, eine Zeremonie zum Gedenken an den ersten Todestag abzuhalten, und dem Vater wurde verboten, sein Haus zu verlassen.
Wer ist am meisten bedroht?
Jede und jeder, der an einer Demonstration teilnimmt, setzt sich einem hohen Risiko aus, festgenommen, misshandelt und zu einer langen Gefängnisstrafe verurteilt zu werden. Selbst eine Person, die nicht daran teilnimmt, sondern sich lediglich zur falschen Zeit am falschen Ort befindet, kann ins Visier genommen werden.
In seinem Bericht vom März 2023 stellte der Sonderberichterstatter für die Menschenrechtslage im Iran, Javaid Rehman, fest, dass ethnische und religiöse Minderheiten unverhältnismässig stark von der Repressionswelle nach den Protesten betroffen waren. Mehr als die Hälfte, der seit Beginn der Proteste Getöteten, stammte aus Provinzen, die von Belutschen und Kurden bewohnt werden.
Gibt es noch eine zusammenhängende Protestbewegung? Etwa im Untergrund oder über die Diaspora im Ausland?
Die Protestbewegung nach dem Tod von Jina Mahsa Amini war eine spontane Volksbewegung, die nicht besonders organisiert war. Es fehlte an Koordination und Führung. Die Proteste erreichten nicht die kritische Masse, die notwendig gewesen wäre, um eine unmittelbare Bedrohung für das Überleben des Regimes darzustellen, auch wenn dieses deutlich ins Wanken geriet. Die Bewegung war nicht in der Lage, ein konkretes politisches Programm und eine tragfähige Alternative zur Islamischen Republik anzubieten, die einen grösseren Teil der Bevölkerung davon hätte überzeugen können, sich der Bewegung anzuschliessen.
Während die iranische Diaspora weitgehend mobilisiert wurde, um die Protestbewegung zu unterstützen, insbesondere durch die Nutzung sozialer Netzwerke, zeigte sie auch organisatorische Schwächen und blieb politisch zwischen zahlreichen Gruppen gespalten.
Wie sehen Sie die Zukunft und was würden Sie sich wünschen?
Obwohl die Protestbewegung von einem Regime, das sich im Amt halten konnte, gewaltsam niedergeschlagen wurde, besteht dennoch Grund zu Optimismus. Neben der Forderung der Frauen, sich so zu kleiden, wie sie wollen, ist die Protestbewegung vor allem ein Kampf um die Umschreibung der Gesetze und sozialen Normen, die den Platz der Frau in der iranischen Gesellschaft, aber auch in ihren Familien bestimmen.
Auch wenn das Regime keine Zugeständnisse gemacht hat und die Gesetze nicht geändert wurden, hat sich in der Gesellschaft ein Wandel vollzogen, mit Frauen, die deutlich gezeigt haben, dass sie nicht länger akzeptieren, als Bürgerinnen zweiter Klasse behandelt zu werden, und die ihre Rechte aktiv einfordern.
Die Protestbewegung hat auch die Kluft zwischen den politischen Institutionen und der Bevölkerung, insbesondere der jüngeren Generation, vertieft. Ohne Zukunftsaussichten und mit dem Wunsch nach mehr Freiheiten verlassen viele junge Akademikerinnen und Akademiker das Land oder träumen davon, es zu tun. Auch wenn das politische System des Iran bis heute Widerstandsfähigkeit und Anpassungsfähigkeit bewiesen hat, wird es die wachsende Unzufriedenheit und die Forderungen seiner Bevölkerung nach Veränderung nicht ewig ignorieren können.