Schweizer Beteiligung an der Seenotrettung im Mittelmeer

29. August 2019

Offener Brief an Frau BundesrÀtin Keller-Sutter

Sehr geehrte Frau BundesrÀtin Keller-Sutter

In der ersten Septemberwoche wird in Malta ein neues Sondertreffen fĂŒr einen freiwilligen Notfallmechanismus zur Verteilung von FlĂŒchtlingen in der EU stattfinden. Diskutiert wird dabei auch der deutsch-französische Vorschlag zur Verteilung der im zentralen Mittelmeer geretteten Schutzsuchenden auf verschiedene EU-LĂ€nder. 14 EU Staaten wollen diesen Vorschlag unterstĂŒtzen, acht davon durch eine aktive Mitarbeit bei einem Verteilungsverfahren. Die von Deutschland und Frankreich initiierte Regelung soll verhindern, dass Italien und Malta Schiffen mit aus Seenot geretteten Menschen an Bord die Einfahrt in ihre HĂ€fen weiter untersagen.

Die Schweiz setzt sich seit Jahren international fĂŒr eine FlĂŒchtlingspolitik ein, die auf SolidaritĂ€t basiert und den GrundsĂ€tzen der Menschenrechte Rechnung trĂ€gt. Die Schweizerische FlĂŒchtlingshilfe (SFH), ihre Mitgliederhilfswerke und das Schweizerische Rote Kreuz (SRK) anerkennen dieses Engagement. Wir begrĂŒssen auch, dass der Bund auf europĂ€ischer Ebene fĂŒr einen dauerhaften solidarischen Verteilmechanismus fĂŒr Schutzsuchende wirbt – namentlich fĂŒr jene Menschen, die im Mittelmeer aus Seenot gerettet wurden.

Eine langfristige gesamteuropĂ€ische Lösung ist jedoch blockiert, eine Einigung bis dato nicht absehbar. Die gegenwĂ€rtige Migrationspolitik der EU ist darauf angelegt, die Flucht nach Europa zu verhindern. Sie setzt immer stĂ€rker auf Abschottung und Abschreckung – und nimmt dafĂŒr Gewalt, Menschenrechtsverletzungen und tausendfaches Sterben billigend in Kauf. Mit grösster Besorgnis beobachten wir die verheerenden ZustĂ€nde in Libyen und die unhaltbare Situation auf dem Mittelmeer, wo Europa Menschen ertrinken lĂ€sst, die Schutz und eine menschenwĂŒrdige Zukunft fĂŒr sich und ihre Familien gesucht haben. Die Schweiz hat eine Mitverantwortung an dieser humanitĂ€ren Katastrophe. Sie trĂ€gt diese Politik mit,

beteiligt sich nur zögerlich an Lösungen und schafft zu wenig legale und sichere Fluchtwege in die Schweiz.

Die Pflicht zur Seenotrettung ist geltendes Völkerrecht, das Recht auf Leben und der Schutz vor unmenschlicher Behandlung sind nicht verhandelbar. Die EU und die Schweiz können sich dieser Verantwortung nicht entziehen. Dass private Organisationen sowie Helferinnen und Helfer behindert, kriminalisiert und bestraft werden, wenn sie fĂŒr die unterlassene Hilfeleistung der europĂ€ischen Staaten in die Bresche springen, ist empörend. Diese Politik kostet Menschenleben, untergrĂ€bt das Vertrauen in den Rechtsstaat und setzt unsere eigene HumanitĂ€t und WĂŒrde aufs Spiel. Die Schweiz darf deshalb nicht lĂ€nger abseits stehen. Sie muss sich aktiv an einer Lösung beteiligen.

Wir appellieren an Sie, Frau BundesrĂ€tin Keller-Sutter, sich dafĂŒr einzusetzen, dass die Schweiz eine Vorreiterrolle einnimmt und Verantwortung fĂŒr den FlĂŒchtlingsschutz und die Wahrung der Menschenrechte ĂŒbernimmt, wie es den Zielen der Schweizer Migrationsaussenpolitik entspricht. Mit den folgenden Massnahmen kann und soll die Schweiz einen wichtigen Beitrag dazu leisten, die derzeitige politische Blockade in Europa zu ĂŒberwinden und die humanitĂ€re Katastrophe im Mittelmeerraum zu beenden.

1. Die Schweiz als sicherer Hafen: Die Schweiz anerkennt, dass die völkerrechtskonforme Seenotrettung eine staatliche Aufgabe ist. Sie setzt sich auf bilateraler und multilateraler Ebene ein fĂŒr einen sofortigen europĂ€ischen Notfallmechanismus zur Verteilung von GeflĂŒchteten, die aus Seenot gerettet werden. Als ErgĂ€nzung zu den bestehenden Resettlement-Programmen beteiligt sich die Schweiz dazu aktiv an der Koalition der willigen Staaten, die dem Sterben im Mittelmeer nicht mehr tatenlos zusehen wollen. Gemeinsam mit anderen aufnahmebereiten Dublin-Mitgliedsstaaten wie Deutschland, Frankreich, Finnland oder Portugal nimmt die Schweiz demnach Schutzsuchende, die im zentralen Mittelmeer aus Seenot gerettet wurden, in einem geordneten Verfahren solidarisch auf und gewĂ€hrt ihnen ein faires Asylverfahren und den nötigen Schutz.

2. Evakuierung von Menschen aus Libyen: ZusĂ€tzlich mĂŒssen Menschen sofort direkt aus Libyen evakuiert werden. Die Situation im vom BĂŒrgerkrieg erschĂŒtterten Libyen ist Ă€usserst besorgniserregend. Die Lager, in denen GeflĂŒchtete unter menschenunwĂŒrdigen Bedingungen gefangen gehalten werden, werden bombardiert. Schutzsuchende, die von der sogenannten libyschen KĂŒstenwache im Auftrag der EU und unter Missachtung des Non-Refoulement-Gebots nach Libyen zurĂŒckgebracht werden, sind systematisch Folter, Versklavung und Gewalt ausgesetzt. Das UNHCR hat Kenntnis von rund 30 offiziellen Lagern in Libyen, in denen schĂ€tzungsweise 6‘000 Menschen gefangen gehalten werden. UngefĂ€hr zwei Drittel von ihnen fallen unter die UN-FlĂŒchtlingsdefinition. Die Schweiz sollte Hand bieten zu einer Lösung und die Soforthilfe fĂŒr die betroffenen Menschen vor Ort stĂ€rken.

3. Sichere Fluchtwege stĂ€rken: Um die humanitĂ€re Katastrophe entlang der Mittelmeerroute zu beenden, braucht es zwingend mehr PlĂ€tze fĂŒr KontingentsflĂŒchtlinge. Es ist die einzig langfristig tragbare Lösung, um Menschen, die Schutz vor Verfolgung suchen, nicht auf lebensgefĂ€hrliche Fluchtwege zu zwingen. Das Resettlement muss dazu bereits frĂŒh entlang der Fluchtrouten ansetzen und darf nicht allein auf den Mittelmeerraum fokussieren.Der Bundesrat hat im November 2018 ein Resettlement-Kontingent von 800 PlĂ€tzen fĂŒr das Jahr 2019 beschlossen sowie im Mai 2019 ein Kontingent von je 800 PlĂ€tzen pro Jahr fĂŒr 2020/21, namentlich fĂŒr die Opfer des Syrienkonflikts. Die aktuelle Ă€usserst besorgniserregende Situation entlang der Mittelmeerroute schafft aber einen zusĂ€tzlichen humanitĂ€ren Handlungsbedarf. In der Schweiz sind die Asylgesuchzahlen derzeit unterdurchschnittlich tief. Die Möglichkeiten und KapazitĂ€ten, um in der Schweiz mehr Schutzsuchende aufzunehmen, sind daher vorhanden, zumal die Strukturen des neuen Asylsystems auf 24’000 Gesuche jĂ€hrlich ausgerichtet sind. Viele Schweizer StĂ€dte und Kantone sowie die Zivilgesellschaft sind zudem gewillt, Hand zu bieten und sich an einer Lösung zu beteiligen.

4. Aufbau und Mitfinanzierung der Seenotrettung: Die Seenotrettung durch NGO wurde nur nötig, weil Europa nicht bereit war, die italienische Operation „Mare Nostrum“ mitzufinanzieren und eine Seenotrettung aufzubauen, die diesen Namen verdient. Die europĂ€ischen Staaten dĂŒrfen die Verantwortung fĂŒr diese Aufgabe nicht lĂ€nger auf private Organisationen abwĂ€lzen, sondern mĂŒssen sie wieder selbst ĂŒbernehmen. Die Schweiz sollte sich fĂŒr den Aufbau eines dauerhaften, europĂ€isch organisierten Seenotrettungssystems engagieren und sollte sich auch finanziell und operativ daran beteiligen.

Wir bitten Sie, Frau BundesrĂ€tin Keller-Sutter, die geforderten Massnahmen zu prĂŒfen und sich fĂŒr eine sofortige freiwillige Beteiligung der Schweiz an der Seenotrettung im Mittelmeer einzusetzen.

Freundliche GrĂŒsse

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