Afghanistan: Die Schweiz muss mehr leisten für den Schutz der Flüchtlinge

18. August 2021

Die Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH) begrüsst den Entscheid des Bundesrates, rund 40 lokale Mitarbeitende des DEZA-Kooperationsbüros in Kabul und ihre Kernfamilien in der Schweiz aufzunehmen. Aus Sicht der SFH genügt die Aufnahme dieser insgesamt rund 230 Personen indes nicht: Es braucht neben raschen Evakuierungen und humanitärer Soforthilfe auch Visaerleichterungen für afghanische Geflüchtete, beschleunigte Familienzusammenführungen und ein zusätzliches Resettlement-Kontingent für humanitäre Notlagen.

Nach der Machtübernahme der Taliban wird die humanitäre Lage in Afghanistan von Tag zu Tag schlimmer – die vor den Taliban flüchtenden Menschen sind in wachsender Not. Die Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH) begrüsst daher den heutigen Entscheid des Bundesrates, rund 40 lokale Mitarbeitende des Kooperationsbüros der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) in Kabul und ihre Kernfamilien in einer humanitären Aktion in der Schweiz aufzunehmen. Doch dabei darf es der Bundesrat angesichts der katastrophalen Situation vor Ort nicht bewenden lassen.

Aus Sicht der SFH sind vielmehr umgehend weitere Schritte und Massnahmen nötig: 

1. Humanitäre Soforthilfe leisten und rasche Evakuierungen ermöglichen

Nach Angaben von UNHCR lebten Ende 2020 bereits 2,2 Millionen Afghaninnen und Afghanen als Flüchtlinge in den Nachbarländern Iran und Pakistan. Rund 2,9 Millionen Menschen sind aktuell innerhalb ihres eigenen Landes vertrieben – allein seit Anfang 2021 gibt es Schätzungen zufolge rund 550'000 neue binnenvertriebene Menschen in Afghanistan. Die SFH weist die Schweizer Behörden seit Jahren auf die gefährliche Sicherheits- und Menschenrechtslage hin, die sich nun dramatisch weiter zugespitzt hat. Die Menschen auf der Flucht brauchen dringend Unterstützung, insbesondere in den Erstaufnahmeländern – vorab Notunterkünfte, Nahrungsmittel, Gesundheits-, Wasser- und Sanitärversorgung.

Die Schweiz muss daher umgehend

  • humanitäre Soforthilfe leisten und namentlich die vor Ort tätigen internationalen Organisationen wie IKRK und UNHCR finanziell und mit Hilfsgütern unterstützen;
  • die Bemühungen der internationalen Gemeinschaft zur sofortigen Evakuierung von Flüchtlingen aus Afghanistan unterstützen, namentlich auch von lokalen Mitarbeitenden von Schweizer NGO und anderen Organisationen und ihre Familien und insbesondere durch Kooperationen mit Vertretungen anderer Länder;
  • die Unterstützung jener Nachbarländer ausbauen, die den Grossteil der Flüchtlinge beherbergen – insbesondere Iran und Pakistan.

2. Rasch und unbürokratisch Geflüchtete aufnehmen

    Visaerteilung erleichtern und Familienzusammenführung beschleunigen

Im Schweizer Asylrecht bestehen mit der Erteilung von humanitären Visa und mit der Möglichkeit von Familienzusammenführungen bereits anwendbare Instrumente, um Schutzsuchenden rasch einen sicheren Weg in die Schweiz zu ebnen. 

Gemäss Verordnung über die Einreise und die Visumserteilung (VEV) können Personen, die konkret, unmittelbar und ernsthaft gefährdet sind, bei einer schweizerischen Auslandvertretung ein humanitäres Visum beantragen. Die Schweiz verfügt indes über keine Vertretung in Afghanistan. Gesuche können nur über die Vertretungen anderer Länder (etwa Iran, Pakistan, Tadschikistan und Usbekistan) gestellt werden. Die Vertretung prüft die Gesuche in Zusammenarbeit mit dem SEM.

Die aktuelle Praxis ist allerdings äusserst restriktiv: Die betroffenen Personen müssen einen engen und aktuellen Bezug zur Schweiz haben – etwa Familienangehörige (nahe und regelmässig gelebte verwandtschaftliche Beziehungen zu in der Schweiz wohnhaften Angehörigen), einen langen Voraufenthalt in der Schweiz mit einer engen Verbundenheit mit der Schweiz oder eine exponierende Erwerbstätigkeit für eine staatliche Organisation der Schweiz bis unmittelbar vor Machtübernahme der Taliban. Zudem ist die Prüfung der Gesuche zeitaufwendig.  

Die Schweiz soll daher

  • umgehend die Erteilung von humanitären Visa für sämtliche gefährdeten Afghan*innen erleichtern und beschleunigen, ohne die Anforderung an einen Bezug zur Schweiz

und

  • als Sofortmassnahme die erleichterte Erteilung von Besucher-Visa für jene Geflüchtete in Afghanistan gewähren, die Familienangehörige in der Schweiz mit einer Aufenthaltsbewilligung oder vorläufiger Aufnahme haben, ohne vertiefte Prüfung einer persönlichen, unmittelbaren Gefährdung – ähnlich, wie es bereits 2013 und 2015 in Zusammenarbeit mit dem Schweizerischen Roten Kreuz (SRK) für syrische Kriegsflüchtlinge praktiziert wurde;
  • die Möglichkeit gewährleisten, dass Angehörige oder andere Kontaktpersonen in der Schweiz das Gesuch um ein humanitäres oder Besucher-Visum bereits vorab schriftlich beim SEM einreichen können zwecks Vorprüfung, da der physische Zugang zu einer Schweizer Botschaft in einem Nachbarstaat für Personen in Afghanistan aufgrund der geschlossenen Grenzen aktuell nicht möglich ist.

Zusätzliche Resettlement-Kontingente bereitstellen

Der Bundesrat hat im Mai 2019 das Umsetzungskonzept für die Schweizer Teilnahme an den Resettlement-Programmen des UNHCR verabschiedet. Dieses Konzept sieht neben den regelmässigen jährlichen Kontingenten explizit eine sofortige Hilfsoption für humanitäre Notlagen wie in Afghanistan vor: «Im Fall einer humanitären Notlage kann der Bundesrat auch zusätzliche Aufnahmen beschliessen und diese, basierend auf einem freiwilligen Engagement über den Verteilschlüssel hinaus, auf aufnahmewillige Kantone verteilen.» Mehrere Kantone, Gemeinden und Städte haben sich in jüngster Vergangenheit wiederholt bereit erklärt, vermehrt Geflüchtete aufzunehmen, auch die Kirchen und zivilgesellschaftliche Organisationen sind zu einem verstärkten Engagement bereit.

Auf dieser Grundlage soll der Bundesrat

  • in Rücksprache mit den Kantonen, Gemeinden und Städten umgehend die zusätzliche humanitäre Aufnahme von möglichst vielen Resettlement-Flüchtlingen beschliessen – namentlich von besonders verletzlichen Geflüchteten wie Frauen, Kinder und Familien – und in Zusammenarbeit mit dem UNHCR umsetzen, sobald dies möglich ist;
  • umgehend Möglichkeiten schaffen, wie Kirchen und zivilgesellschaftliche Akteure bei der Umsetzung dieser humanitären Aufnahmeaktion rasch eingebunden werden können. Eine entsprechende Gesetzesgrundlage ist beim Bundesrat bereits seit mittlerweile fünf Jahren pendent. Die humanitäre Sofortmassnahme zur zusätzlichen Aufnahme von afghanischen Flüchtlingen kann hier als Pilotprojekt dienen.

3. Schutz und regulären Aufenthaltsstatus gewähren

Im Hinblick auf afghanische Geflüchtete, die sich bereits in der Schweiz befinden, muss das SEM aufgrund der dramatischen Ausgangssituation in Afghanistan besondere Massnahmen ergreifen und Praxisanpassungen vornehmen.

  • Afghanischen Geflüchteten, die in der Schweiz aktuell das Asylverfahren durchlaufen, soll grundsätzlich Asyl oder zumindest eine vorläufige Aufnahme gewährt werden;
  • Hängige Gesuche von afghanischen Geflüchteten sollen möglichst rasch entschieden werden, um sie nicht zu lange in einer Warteschlaufe zu belassen, denn eine baldige Verbesserung der Situation ist nicht absehbar;
  • Afghanischen Geflüchteten, die bereits einen negativen Entscheid erhalten haben und sich noch in der Schweiz befinden, sollen Wiedererwägungsgesuche und Zweitasylgesuche ermöglicht werden, damit diese Personen einen regulären Aufenthaltsstatus erhalten.

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