© Stephan Hermann
«Nur in einer inklusiven Gesellschaft können Alle erfolgreich und glücklich leben.»
Für Mahtab Aziztaemeh*, 2015 aus dem Iran geflüchtet, ist das Flüchtlingsparlament eine Herzensangelegenheit. Sie erzählt im Interview, weshalb es Inklusion anstatt Integration braucht, und welche Hoffnungen sie mit ihrem politischen Engagement verbindet.
Interview: Annelies Müller, Redaktorin SFH
Was sollten wir über Sie wissen?
Mahtab Aziztaemeh: Ich wurde am Valentinstag 1971 geboren. Vor acht einhalb Jahren bin ich aus dem Iran geflüchtet, wo ich persische Literatur studiert habe. In der Schweiz arbeite ich im Koordinationsteam des Flüchtlingsparlaments mit, was für mich eine Herzensangelegenheit ist. Dort können auch wir unsere Stimme erheben und sagen, es wäre eine echte Demokratie, wenn in der Schweiz alle eine Stimme hätten.
Wie sind Sie zum Flüchtlingsparlament gekommen?
Mahtab Aziztaemeh: Ich war schon beim ersten Flüchtlingsparlament dabei. Es ist mir wichtig, weil die Schweizer Asylpolitik sehr hart ist. Diese Härte sollte aber auch fair sein. Wir stellen fest, dass die Asylpolitik stetig verschärft wird. Wenn die Schweizer Politiker*innen aber glauben, die Leute kämen so nicht mehr, dann irren sie. Viele Leute sind bereits da, und sie werden auch hierbleiben. Diese harte Politik führt dazu, dass sich die Betroffenen nicht integrieren, nicht arbeiten und nicht gesund leben können. Die Gesundheit vieler Geflüchteter ist schlecht, denn sie stehen unter massivem psychischem Druck. Ist das fair, wenn Leute so leiden?
Wie würden Sie uns Ihre ersten Eindrücke auf der Projektreise «Flüchtlingsparlament» beschreiben?
Mahtab Aziztaemeh: Da ist zuerst einmal die Hoffnung, etwas verändern zu können. Bis jetzt nehme ich diese Hoffnung bei vielen Flüchtlingsparlamentarier*innen wahr. Wir werden weitermachen, bis wir gehört werden.
Es gehört Mut dazu, wenn Betroffene öffentlich erzählen, was ihnen geschehen ist und worunter sie leiden, doch basierend auf diesen Erfahrungen können wir unsere Empfehlungen formulieren.
Die Solidarität, aber auch die Unterstützung, die wir dabei von zahlreichen Fachleuten und Politiker*innen erfahren, hält bis dato an.
Worauf sind Sie stolz? Was ist mühsam? Was ist Ihnen besonders wichtig?
Mahtab Aziztaemeh: Mühsam ist, dass alles so langsam geht. Es braucht viel Zeit, um etwas zu verändern. Ich bin aber stolz auf unsere Kraft, für Inklusion und nicht für Integration einstehen zu wollen. Wir glauben fest daran, dass echte Demokratie irgendwann verwirklicht werden kann, dann nämlich, wenn auch unsere Stimmen gehört werden. Nur in einer inklusiven Gesellschaft können alle Menschen erfolgreich und glücklich leben. Wenn ich als eine Geflüchtete das Gefühl habe, dass auch mir diese Gesellschaft gehört, dann trage ich mein Bestes dazu bei. Wenn ich aber ausgegrenzt werde, dann demotiviert mich das. Wozu sollte ich zu etwas beitragen wollen, von dem ich mich nicht als Teil fühle? Wenn ich keine Stimme habe, dann fühle ich mich frustriert, und irgendwie bin ich psychisch nicht ganz gesund. Wenn es uns Geflüchteten aber nicht gut geht, dann bezahlt die Schweiz das am Ende, indem Kosten in der Gesundheitsversorgung anfallen. Deshalb sollte von Beginn an in uns investiert werden. Wenn ich Sprach- und Integrationskurse finanziert bekomme, dann kann ich arbeiten, Steuern bezahlen und so meinen Beitrag leisten. Wenn ich aber keine oder nur unzureichende Integrationsmassnahmen erhalte, dann verbleibe ich in der Sozialhilfe und falle so langfristig der Allgemeinheit zur Last.
Meine Hoffnung ist, dass das Flüchtlingsparlament eines Tages als Ansprechpartner für Entscheidungsträger*innen aus Politik und Behörden anerkannt wird, für die Leute, die jetzt noch hinter verschlossenen Türen ohne uns über uns entscheiden. Viel zu oft werden wir nur als Opfer oder als Zahlen aus einer Statistik wahrgenommen. Dabei sind viele Mitglieder des Flüchtlingsparlaments wahre Experten, denn sie können ihre Erfahrungen als Expertise in den Diskurs einbringen.
Wie werden Sie dafür sorgen, dass Ihre Vorstösse nach der Session in der Politik, aber auch im öffentlichen Diskurs gehört werden?
Mahtab Aziztaemeh: Selbstverständlich verfolgen wir die Nachrichten. Zu parlamentarischen Vorstössen, welche asyl- und Migrationsrelevante Themen betreffen, arbeiten wir Vernehmlassungen aus. So versuchen wir, unsere Expertise in die laufenden Debatten einzubringen. Wir machen Vorschläge, wie Gesetze implementiert werden können und äussern uns dazu, welche Folgen gewisse Entscheidungen für die Betroffenen haben.
Wir versuchen, in jeder Art und Weise Lobbyarbeit zu machen. Dazu suchen wir das Gespräch mit Politiker*innen aller Parteien. Wir laden sie ein, gehen aber auch aktiv ins Parlament. Momentan sind wir daran, eine parlamentarische Gruppe und einen aus Politiker*innen und Geflüchteten bestehenden Beirat aufzubauen.
Regelmässig vergeben wir sogenannte Bedankenpreise. Beispielsweise haben wir dem Solidaritätsnetz Bern für sein Engagement zu Gunsten von nicht regularisierten Personen sowie den EVP-Nationalräten Nigg Gugger und Marianne Streiff-Feller für ihre Motion für eine humanitäre Lösung für abgewiesene Asylsuchende unlängst einen Bedankenpreis verliehen. Dem Staatssekretariat für Migration (SEM) haben wir einen Bedankenpreis vergeben, nachdem der Schutzstatus S für ukrainische Geflüchtete eingeführt wurde.
Wenn es irgendwo nicht gut läuft, vergeben wir Verbesserungsvorschläge. Das eröffnet uns gleichzeitig die Möglichkeit, mit diesen Stakeholdern ins Gespräch zu kommen.
Wir stehen auch mit den Behörden in Kontakt. Regelmässig finden Sitzungen mit dem SEM statt, und im Februar 2024 haben wir beim Bundesamt für Zoll- und Grenzsicherheit (BAZG) wegen Frontex vorgesprochen. Es ist uns ein Anliegen, mit den Entscheidungsträger*innen konstruktiv zusammenzuarbeiten.
Zur Unterstützung der im Flüchtlingsparlament verabschiedeten Empfehlungen suchen wir nach Möglichkeit die Zusammenarbeit mit den Medien. Zudem sind wir an diversen Anlässen präsent, z. . im Mai 2024 am Asylsymposium.
Ist die Schweizer Politik bereit für die aktive Partizipation von Menschen mit Migrations- und Fluchterfahrung?
Mahtab Aziztaemeh: Das ist eine interessante Frage, die ich gerne kritisch beantworten möchte. Wir hören überall von Partizipation, doch in der Umsetzung fehlen mir die konkreten Ergebnisse. In öffentlichen Debatten werden wir Geflüchteten immer neben Fachpersonen eingeladen. Das vermittelt unterschwellig die Botschaft, dass wir Geflüchtete nicht als Expert*innen, sondern als Opfer wahrgenommen werden. Ich bin aber voller Hoffnung, dass wir gemeinsam echte Partizipation erreichen können. Das Flüchtlingsparlament kann diese zusammen mit Entscheidungsträger*innen, den Behörden, Organisationen und Fachpersonen auf diversen Gebieten des Flüchtlings- und Migrationsbereichs vorleben. Es reicht nicht, nur über Partizipation zu sprechen ohne die echte Bereitschaft, Geflüchteten auf Augenhöhe zu begegnen und ihre Expertise entgegenzunehmen. Erst, wenn wir Geflüchteten auch mitentscheiden können in Belangen, die uns betreffen, haben wir wahre Inklusion erreicht.
*Mahtab Aziztaemeh, Koordinatorin im Flüchtlingsparlament
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