«Mit dem Flüchtlingsparlament ist dieser Traum Realität geworden.»

Der Eritreer Shishai Haile ist Flüchtlingsparlamentarier der ersten Stunde. Im Interview erzählt er, wie das Projekt entstand, wie es funktioniert und welche konkreten Erfolge das Parlament in den letzten Jahren verbuchen konnte.

Interview: Annelies Müller, Redaktorin SFH

Was sollten wir über Sie wissen?  
Shishai Haile: Mein Name ist Shishai Haile*. 1991 geboren, bin ich im Juni 2015 aus Eritrea in die Schweiz geflüchtet. Hier habe ich Ausbildungen zum Migrationsfachmann und zum interkulturellen Dolmetscher absolviert. Daneben bin ich im Koordinationsteam des Flüchtlingsparlaments. In der Funktion habe ich einerseits die Kommission zur psychischen Gesundheit von Geflüchteten geleitet und zum anderen die italienischsprachige Kommission als Prozessunterstützer begleitet.                                 

Wie sind Sie zum Flüchtlingsparlament gekommen? 
Shishai Haile: Seit 2019 gibt es bei NCBI Schweiz das Projekt «Unsere Stimmen». Damit möchten wir bewirken, dass Politiker*innen nicht über unsere Köpfe hinweg Entscheide fällen, ohne uns Geflüchtete zu konsultieren.  
«Unsere Stimmen» ist ein rein partizipatives Projekt, welches zunächst im Kanton Zürich entstand und sich danach auch in anderen Kantonen etablierte. Das Motto lautet: «Mit uns statt über uns». Die Geflüchteten treffen sich, sprechen über Hindernisse bei der Integration und lassen sich von einer Fachperson zum Thema beraten. Daraus formulieren sie Empfehlungen, die anschliessend an einem öffentlichen Hearing mit Fachpersonen und Politiker*innen präsentiert werden. Diese Hearings fanden zunächst auf kantonaler Ebene statt. In einer Weiterbildung von «Unsere Stimmen» entstand dann die Idee für das erste nationale Flüchtlingsparlament.  
Damals habe ich ein Praktikum bei NCBI absolviert und war so von Beginn an der Projektentwicklung beteiligt.  

Wie würden Sie uns Ihre ersten Eindrücke auf der Projektreise «Flüchtlingsparlament» beschreiben?  
Shishai Haile: Ich bin in einem diktatorischen Land aufgewachsen, geschult und geformt worden. Von Meinungsfreiheit konnte ich dort nur träumen. Mit dem Flüchtlingsparlament ist dieser Traum Realität geworden. Dasselbe Gefühl bringen auch andere Geflüchtete mir gegenüber zum Ausdruck.  
Das drückt sich in der guten Partizipation, demokratischen Abstimmungen und dem gemeinsamen Ausarbeiten von Empfehlungen aus. Der gegenseitige Austausch, einerseits mit Politiker*innen, andererseits unter uns Geflüchteten, ist enorm bereichernd.  

Wie hat sich das Projekt in den vergangenen Jahren weiterentwickelt?  

Shishai Haile: 2024 findet bereits die vierte nationale Flüchtlingssession statt. Das Projekt hat sich etabliert; es wird von aussen wahr- und ernst genommen. Ich bin stolz, weil wir Geflüchteten damit unsere Stimme nun auf politischer Ebene erheben können. Mühsam finde ich, dass die Finanzierung schwierig und oft unzureichend ist…  

Von wem wird das Projekt denn finanziert? 
Shishai Haile: NCBI Schweiz trägt das Projekt, indem es sich sowohl um dessen Finanzierung wie auch um die Administration kümmert. Aktuell wird das Flüchtlingsparlament von einigen Stiftungen und sekundär von der öffentlichen Hand finanziert – es handelt sich dabei aber um Projektbeiträge, die nur kurzfristig laufen. Daneben gibt es Partnerorganisationen wie der eritreische Medienbund, das UNHCR oder die Schweizerische Flüchtlingshilfe. 

Welche Erfolge konnte das Flüchtlingsparlament seit der ersten Session im Juni 2021 verbuchen? 
Shishai Haile: Es gibt viele Erfolge! Beispielsweise haben wir Empfehlungen für die Ausbildung von Sans-Papiers oder zu Kindern in der Nothilfe formuliert. Die eidgenössische Migrationskommission (EKM) hat daraufhin das renommierte Marie Meierhofer-Institut beauftragt, die Lebensbedingungen von Kindern in der Nothilfe genauer zu untersuchen. Der Bericht wird demnächst veröffentlicht werden. Wir pflegen einen regelmässigen Austausch mit dem Staatssekretariat für Migration zu diversen Asylthemen, z. B. zur Passbeschaffungspflicht für eritreische und afghanische Geflüchtete. Was die Afghan*innen anbelangt waren wir erfolgreich, bei den Eritreer*innen sind wir noch dran.  
Wir haben den Mapping-Bericht, der Aufschluss über Erfolge und Schwierigkeiten bei der Umsetzung der Integrationsagenda in sieben Kantonen geben soll, initiiert. Der Bericht wurde von der Universität Neuchâtel erstellt. Auf kantonaler Ebene haben wir als Pilot eine Flüchtlingssession im Kanton Aargau lanciert. Diese wird 2024 zum dritten Mal stattfinden. Dort haben wir es nicht nur geschafft, dass die Asylsozialhilfe um CHF 0.50 pro Tag und Person erhöht wurde. Im November 2023 haben erstmals Politiker*innen aller Parteien teilgenommen. Auf nationaler Ebene gestaltet sich der Kontakt zu Exponenten der SVP und der FDP leider noch etwas schwierig.  
Im Kanton Zürich haben wir einen Vorstoss unterstützt, um Stipendien auch für Inhaber*innen von F-Ausweisen zu erstreiten. Weil dagegen das Referendum ergriffen wurde, kommt die Vorlage im Herbst 2024 noch zur Abstimmung. 

Am Flüchtlingsparlament werden jeweils diverse Vorstösse verabschiedet. Was geschieht damit, nachdem sie das Parlament passiert haben? 
Shishai Haile: Bislang hat das Parlament etwa 80 Vorstösse aus den unterschiedlichen Kommissionen verabschiedet. Aus der neugegründeten Kommission «Geflüchtete mit Beeinträchtigungen» kamen 2024 gleich mehrere Vorstösse. Während der Podiumsdiskussion werden diejenigen mit der höchsten Priorität präsentiert. Die Podiumsteilnehmer*innen, d. h. die Politiker*innen, nehmen unsere Empfehlungen entgegen und kommentieren sie. Zukünftig werden sie die Vorstösse dann in die politische und öffentliche Debatte einfliessen lassen.   

Das Motto des Flüchtlingsparlaments lautet: «nothing about us without us». Was ist damit gemeint? 
I Shishai Haile: n der Schweiz können Geflüchtete über viele Dinge, die sie direkt betreffen, nicht selbst entscheiden. Allzu oft wird über uns und nicht mit uns gesprochen. Wer aber weiss besser als wir, wie sich die Asylpolitik konkret auf die Betroffenen auswirkt? Keine Frauenpolitik ohne Frauen! Keine Asylpolitik ohne Geflüchtete!  

*Shishai Haile, Mitinitiator und Koordinator des Flüchtlingsparlaments

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