Von Barbara Graf Mousa, Redaktorin SFH
«Viele Menschen denken, dass Flüchtlinge Menschen mit Problemen sind. Sie vermeiden den Kontakt, weil sie neben den eigenen Problemen nicht noch andere Probleme haben möchten», sagt der junge Mann nachdenklich. «Das ist sehr schade, denn wir sind auch lustige und unkomplizierte Menschen. Wir möchten doch, so wie alle anderen auch, einfach in Frieden leben.» Er sitzt in seinem Lieblingscafé mitten in einem quirligen, städtischen In-Quartier, wo er seit zwei Jahren lebt. Umgeben von Menschen aller Generationen, geniesst er das Kommen und Gehen im Café und blickt auf die Strasse: «Das ist mein Zuhause, ich mag diese Strasse und diese Atmosphäre hier sehr. Hier gehöre ich dazu und bin Teil dieser gemischten Kundschaft.» A.B., der im Sommer 2017 minderjährig und allein in Chiasso sein Asylgesuch einreichte, ist definitiv in einem neuen Lebensabschnitt angekommen.
Gewalt und Hunger unterwegs
Schon als kleiner Junge lebte A.B. in Äthiopien; zuerst in der Nähe der Hauptstadt Addis Abeba in einem grossen, vom UNHCR betriebenen Flüchtlingscamp, danach in einem Flüchtlingsquartier in der Stadt. Mit seiner Grossmutter wartete er so wie tausende andere vom UNHCR registrierte Flüchtlinge auf einen Resettlement-Platz und träumte von einem neuen Leben in Kanada, den USA oder in einem europäischen Land. Als seine Grossmutter verstarb und im Juni 2016 immer noch kein Bescheid zum Resettlement-Antrag vorlag, war für ihn klar: «Dieser Prozess kommt nicht mehr voran, ich muss es allein versuchen.» Der damals 14-Jährige flüchtete in die sudanesische Hauptstadt Khartum und von dort mit einem Schlepper durch die Wüste bis nach Libyen. Nach sieben Monaten gelang ihm die Überquerung des Mittelmeers in einem Holzschiff nach Italien. Er wurde mit rund vierzig minderjährigen Geflüchteten in ein Camp in Reggio Calabria untergebracht. Die Erinnerungen an die Flucht sind ihm unangenehm; der höfliche junge Mann mag nicht klagen. Doch was hier in drei Sätzen zusammengefasst ist, verbirgt die brutale Realität einer lebensgefährlichen Fluchtroute, die geprägt ist von Gewalt, Erniedrigungen und Entbehrungen. «Für die Schlepper bist du nicht einmal ein Tier, bloss ein Gegenstand, mit dem man viel Geld verdient. Libyen ist für alle Flüchtlinge ein schreckliches Gefängnis, da musst du irgendwie durch und in Italien wurden wir überall beschimpft und fortgejagt, wir bekamen kaum etwas zu essen», lauten die knappen Kommentare des angehenden Elektrikers.
Schutz und Fürsorge seit der Ankunft
Die Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH) setzt sich dafür ein, dass die spezifischen Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen auch im Asylwesen berücksichtigt werden und ihnen eine möglichst kindgerechte und gesunde Entwicklung ermöglicht wird. Hierzu gehören kindergerechte Unterbringungsformen, zum Beispiel auch in einer Pflegefamilie, sowie gut qualifiziertes und ausreichendes Betreuungspersonal. Wie positiv sich das auf den Lebensweg eines minderjährigen Asylsuchenden auswirkt, zeigt die Geschichte von A.B. nach seiner Ankunft in der Schweiz. «Ich werde nie mehr vergessen, wie gut wir im Bundesasylzentrum in Chiasso behandelt wurden: Wir bekamen Seife, neue Kleider, freundliche Worte und ein warmes, feines Essen. Ich habe nicht mehr aufgehört zu essen, bis mir der Bauch weh tat», erinnert er sich. Nach dem ersten Interview mit den Schweizer Migrationsbehörden erfolgte die kantonale Zuweisung jeweils in spezifische Unterkünfte für Minderjährige mit Sport- und Freizeitmöglichkeiten. Er wurde eingeschult, beendete das 9. Schuljahr, bevor er 2019 in ein Brückenangebot für den beruflichen Integrationsprozess aufgenommen wurde. Die frühzeitige Teilhabe am sozialen Leben bietet sowohl für die geflüchteten Kinder und Jugendlichen als auch für die Gesellschaft viele Vorteile. Sie hilft, Hürden und Vorurteile abzubauen und fördert die Diversität. Entsprechend fordert die SFH, Kinder und Jugendliche im Asylwesen möglichst früh an «Bildungs- und Freizeitangebote» teilhaben zu lassen und ihre gesellschaftliche Partizipation möglichst zu fördern.
Reifen in Familienstrukturen
Von 2019 bis zu seiner Volljährigkeit lebte der damals 16-Jährige in einer Familie mit zwei etwas jüngeren Söhnen. «Eine geniale Zeit», findet er rückblickend. Er zeichnet eine Grafik mit einer steil ansteigenden Kurve in die Luft: «Genau so entwickelte sich mein Deutsch. Zwei Jahre lang hörte und sprach ich von morgens bis abends nur diese Sprache und den Berner Dialekt», lacht er. «Mein Pflegevater sagte beim Zuhören immer «iu». Heute sage ich das auch, so dass die Leute manchmal denken, ich sei hier aufgewachsen.» A.B. begann Bücher zu lesen, weil die Familie das mochte. Die ganze Familie spielte jeden Abend Fussball im Garten, weil er das liebte. Er lernte zur Freude der Familie das Panorama der Schweizer Berge auswendig. Heute macht er sich einen Spass daraus, seine Kollegen damit zu verblüffen. Eine Familie helfe nicht nur bei administrativen, schulischen oder beruflichen Fragen, meint A.B. Er sagt: «Mit 16 Jahren ist man noch sehr jung und für vieles innerlich noch nicht reif genug. Eine Familie gibt dir Struktur und hält dich auf dem <rechten> Weg. In einer Familie kannst du vieles nachholen, was dir an Wissen und an Lebensgefühlen fehlt, weil du nicht hier aufgewachsen bist.»
Nach seinem Lehrabschluss in einem guten Jahr möchte er gerne auf dem Beruf arbeiten und vielleicht noch eine Weiterbildung machen. Die Lehre gefällt ihm so gut, dass er oft in seiner Freizeit in die Bude geht, um Handgriffe zu üben und Gelerntes zu verinnerlichen. Dem Lehrmeister ist er sehr dankbar, hat er ihn trotz seines F-Ausweises aufgenommen. «Das ist die einzige grosse Enttäuschung, dass ich nur eine vorläufige Aufnahme bekam», sagt er. «Ich finde, das habe ich nicht verdient.»
*anonymisiert, Name der Redaktion bekannt