Von Barbara Graf Mousa, Redaktorin SFH
Als sich Kokob Tesfazghi auf den Weg zur sudanesischen Grenze machte, war er 14 Jahre alt. «Meine Eltern waren Soldaten, mein Bruder auch, ich wusste also, welches Leben mich in Eritrea erwarten würde: ein Leben ohne Freiheit, unter ständiger Kontrolle, ohne Ausbildung, ohne Wahl.» Das eritreische Militär rekrutiere nach Körpergrösse, nicht nach Alter, erklärt der kräftige junge Mann. Für den grossgewachsenen Jugendlichen war es deshalb höchste Zeit aus dem Radar des eritreischen Regimes zu verschwinden. 2013 war die Route über die sudanesische Hauptstadt Khartum einer der wichtigsten Fluchtwege. Vor Kriegsausbruch lebten dort viele eritreische Schutzsuchende mehr oder weniger geduldet als billige Arbeitskräfte. So wie Kokob Tesfazghi verdienten sich dort viele das Geld für einen Schlepper, der sie durch die libysche Wüste bis ans Mittelmeer an eine der EU-Aussengrenzen brachte. Rückblickend meint der heute 26-Jährige Eritreer, er habe damals viel Glück gehabt, weil die lebensgefährliche Fahrt durch die Wüste und auch die Überquerung des Mittelmeers nach Italien für ihn kurz und deshalb gut verlief.
Ankommen in einer Struktur
Drei Jahre nach seiner Flucht aus Eritrea reichte Kokob Tesfazghi im Bundesasylzentrum in Kreuzlingen sein Asylgesuch ein. Der damals 17-Jährige war zumindest physisch definitiv in der Schweiz angekommen. «Heute kann ich kaum erklären, wie ich mich damals bei der Ankunft im Bundesasylzentrum fühlte. Mein Körper war da, mein Geist aber wohl noch kaum. Meine Erinnerungen an die ersten Tage und Wochen in der Schweiz sind noch immer wie von einem Nebel umhüllt.» Er mag sich erst an die Zeit in Belp in dem damaligen Zentrum für unbegleitete minderjährige Asylsuchende (UMA) erinnern. Dieses UMA-Zentrum wurde 2014 von der Gemeinde Belp in Zusammenarbeit mit dem Kanton Bern in Betrieb genommen wegen Platzmangels im bestehenden UMA-Zentrum in Langnau – ebenfalls im Kanton Bern. Von den rund 140 unbegleiteten Minderjährigen fanden rund 40 mehrheitliche eritreische Jugendliche dort eine kinder- und jugendgerechte Unterkunft im Zentrum Bäregg, das heute von der Organisation Zugang B geleitet wird. Die alleingeflüchteten Jugendlichen waren damals zwischen 14 und 18 Jahre alt und erlebten von Beginn weg eine klare Tagesstruktur: vormittags Schule und Deutschkurs, nachmittags Freizeitgestaltung mit viel Sport. Heute sind sie die Kinder von damals erwachsen. Viele haben so wie Kokob Tesfazghi einen Beruf erlernt und ihren Platz in der Gesellschaft gefunden: «Für mich und meine Kollegen war die Zeit in Belp eine sehr gute und wichtige Phase. Hier bin ich wirklich angekommen, konnte das 10. Schuljahr abschliessen, lernte Deutsch, durfte mich nachmittags mit Gleichalterigen sportlich austoben», blickt der heute 26-Jährige zurück. Die Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH) setzt sich vehement für kindesgerechte Betreuungs- und Unterbringungsstrukturen ein. Einschulung und Sprachförderung vom ersten Tag an sowie Freizeitaktivitäten, welche die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben fördern, gehören nach der UNO-Kinderrechtskonvention, welche die Schweiz 1997 unterzeichnet hat, zu den Kinderrechten. Gleichzeitig profitiert die Gesellschaft von gut integrierten jungen Menschen und angehenden Fachkräften.
Unterstützende Netzwerke
Wie viele ehemalige UMA hat auch Kokob in Belp hilfreiche Kontakte zu Schweizerinnen und Schweizern geknüpft, die bis heute halten. Diese Wegbegleiterinnen und –begleiter sind engagierte Freiwillige mit einem guten Netzwerk. Menschen, die sich mit Herz und Verstand um die alleingereisten Kinder und Jugendlichen im Asylprozess kümmern, ihnen immer wieder neue Türen öffnen, Wege durch die Bürokratie ebnen, Mut machen und sie motivieren, an sich und an ihre Qualitäten zu glauben. «Man ist halt schon noch sehr jung und unreif für eine Berufswahl», sagt Kokob Tesfazghi. «Wenn du jemand an deiner Seite hast, der dich einführt in das System hier, der dich ermutigt und an dich glaubt, ist das ein grosses Glück.» Eine seiner Wegbegleiterinnen vermittelte ihn in die Gastfamilie, eine Frau, die im Belper UMA-Zentrum Sport unterrichtete, kannte die Zimmerei, wo er eine Anlehre machen konnte. Kokob selbst glaubte nach einem guten Jahr noch nicht recht an seine Fähigkeiten. «Es war mein Lehrmeister, der mich in vielen, guten Gesprächen überzeugte, diese Lehre zu wagen», erzählt er. «Mein Chef achtet auf die Atmosphäre in seinem Betrieb. Jeden Morgen fragt er uns, wie es uns geht. Denn die Kollegialität im Team ist ihm genauso wichtig, wie das gemeinsame Feierabendbier, das wir jeden Freitag zum Wochenabschluss zusammen geniessen.» Arbeit ist für Kokob Tesfaszghi kein Muss. Im Gegenteil, er fühle sich dabei wohl und zufrieden. Jeden Abend könne er sehen, was er gemacht habe. Als er einmal längere Zeit wegen eines Unfalls nicht arbeiten konnte, sei es ihm psychisch nicht gut gegangen.
Zielbewusst und unkompliziert
Kokob Tesfazghi bezeichnet sich selbst als zielorientiert und unkompliziert. Er sagt: «Es stört mich nicht, wenn jemand mir gegenüber misstrauisch ist oder gar rassistische Sprüche macht. Das geht zum einen Ohr rein und zum anderen wieder raus. Ich fühle mich hier sehr frei. Ich kann meine Meinung frei äussern, ohne, dass mir etwas passiert.» Dass er als Afrikaner immer wieder von anderen unterschätzt wird, stört und ärgert ihn allerdings sehr.
Seit einigen Jahren lebt er auf dem Land. Zuvor hat er zweimal das Leben in Wohngemeinschaften erprobt; einmal mitten in der Stadt und einmal in einem Vorort, einmal ausschliesslich mit geflüchteten Kollegen und das zweite Mal in einer gemischten Konstellation mit Geflüchteten und in der Schweiz aufgewachsenen WG-Gespändli. «In der Stadt bist du unsichtbar, auf dem Land bist du hingegen sichtbar», schildert er seine Erfahrung. «Du musst zu dir stehen, so wie du bist, und Verantwortung für dich übernehmen. Das ist mein Rezept. Ich respektiere die Menschen so wie sie sind und werde meist auch respektiert». Auch an die zwei Jahre, die er in einer Gastfamilie lebte, erinnert er sich gerne: «Wir haben immer noch viel Kontakt und ich kann es sehr empfehlen, bei einer Familie zu leben», sagt er. «Du lernst so viel in kurzer Zeit über das Land, die Sprache, die Kultur, die Mentalität. Und ich hatte zwei kleine Geschwister, das war sehr schön.»
Seit knapp neun Jahren ist Kokob Tesfazghi jedoch immer noch nur vorläufig aufgenommen. Die Anlehre begann er sogar noch mit einem N-Ausweis, also als Asylsuchender im Verfahren. Sein Arbeitgeber hat sich beim Staatssekretariat für Migration (SEM) um die Bewilligung für seine Anlehre und auch für seine Lehre bemüht. «Derzeit ist ein guter Lehrabschluss meine erste Priorität», erklärt er. «Um meinen Aufenthaltsstatus kümmere ich mich später.»